Alissa 1 - Die erste Wahrheit
kleinen Talisman, der auf seinem Knie lag. Das leuchtende Gold hob sich gut sichtbar von dem dunklen Grün seiner neuen Kleider ab. Alissa hatte ihm die schönen Sachen erst heute Morgen überreicht, zusammen mit einem Paar weicher Schuhe. Ein verfrühtes Sonnenwend-Geschenk, hatte sie erklärt und ihm schüchtern das dicke Paket in die Hände gedrückt.
Sie hätte ihm kein besseres Geschenk machen können, dachte er und befühlte den Kragen seines neuen Kittels, ganz anders geschnitten als alles, was er auf seinen Wanderungen gesehen hatte. Er war erschrocken, als er sich darin zum ersten Mal im Spiegel gesehen hatte. Sie hatte mit Schere und Faden ein Wunder vollbracht, denn die kurze Weste und der lange Kittel mit den weiten Ärmeln ließen seine schlaksige Größe elegant erscheinen, was ihn unendlich freute. Seine alten Kleider würden noch jahrelang halten, aber neben Alissas vielen neuen Gewändern wirkten sie fehl am Platze. Es hatte ihn nie gekümmert, was er trug – doch jetzt war es ihm wichtig. Lächelnd blickte er auf.
Strell saß auf dem breiten Fensterbrett des größten Fensters im dritten Stock über der großen Halle, in sicherem Abstand zu dessen Bann. Von hier aus hatte man eine herrliche Aussicht über die südliche Flanke des Berges und zugleich auf den Eingang zur Halle. Wenn in der Feste eine Katze leben würde, dann wäre genau hier ihr Platz, von wo aus sie alles sehen, aber nicht so leicht gesehen werden konnte. Ein gedämpftes, heiseres Bellen zog seinen Blick hinaus zu den verschneiten Feldern. Ein Fuchs, so grau wie die in seiner Heimat, jagte Mäuse. Er verharrte mit zuckenden Ohren, sprang und trottete dann selbstzufrieden von dannen, seinen Fang zwischen den Zähnen. Strell runzelte die Stirn und fragte sich, ob das ein Omen war.
Er blickte in Richtung Küche, konnte aber nur bis zu dem bogenförmigen Durchgang sehen. Alissa war dort, zwischen Feuern und Töpfen, und kochte irgendetwas für heute Abend. Sie hatte ihn am Morgen aus der Küche verbannt und erklärt, er sei ihr nur im Weg. Bald würde er hinuntergehen und ihr im Weg sein, so sehr im Weg, wie er nur konnte. Heute war der Tag vor der Wintersonnenwende: der kürzeste Tag des Jahres, der eigentliche Winterbeginn – und der letzte Tag, an dem er seine Abmachung mit Bailic erfüllen konnte.
Strell legte den Talisman aufs Fensterbrett und spürte den Knoten in seinem Magen. Die Wölfe sollten ihn holen. Er war ein Feigling, dass er hier in der Sonne saß und Glücksbringer knüpfte wie ein alter Mann, statt um ihr Leben zu kämpfen. Aber Tiefländer kämpfen nun einmal nicht, sie feilschen, und damit hatte er nichts erreicht. Heute hatte er darum gefleht, sein Leben gegen Alissas eintauschen zu dürfen, doch das hatte ihm nichts weiter eingebracht als einen Vortrag über Moral.
Strell holte zittrig Atem, hielt ihn an, verweigerte sich dem Verlangen seines Körpers nach Handlung, nach Taten – und verabscheute sich dafür. Sein Leben für ihres, dachte er bitter. Seit ihre Pfade verbrannt waren, schien es beinahe so, als hege ein Teil von ihr jetzt schon die Blumen im Garten der Herrin des Todes, doch er würde alles für das geben, was von ihr übrig war. Er war so erleichtert gewesen, dass sie noch lebte – er hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass sie bleibenden Schaden genommen haben könnte. Nun glich sie nicht mehr einem wilden Sommergewitter, sondern eher einem sanften Frühlingsnebel. Sie war ruhig statt zornig, milde statt gereizt, gleichgültig statt hitzig. Doch ihr stilleres Temperament rührte allein von ihrem neuen, fatalistischen Pessimismus, und er hasste es, sosehr er auch das liebte, was von ihr geblieben war.
In der vergangenen Woche war sie allerdings merklich kräftiger geworden. Er hatte auf der Treppe gestanden und ihr stumm zugejubelt, als sie es zum ersten Mal schaffte, Bailics Tablett ohne Pause bis ganz hinauf zu tragen. Alissa hatte nicht bemerkt, dass er dort stand und sich nur einen Treppenabsatz höher versteckte. Aber noch immer nickte sie manchmal nachmittags ein, und fast jeden Abend schlief sie vor ihrem Feuer ein, lange bevor er sie verlassen wollte. Dann schürte er liebevoll ihr Feuer und schlüpfte mit einem geflüsterten »Gute Nacht« zur Tür hinaus. Das waren die Abende, die er am meisten genoss. Einmal hatte er sie absichtlich in den Schlaf gelullt, um nicht zugeben zu müssen, dass er die neuen Wörter, die sie ihm aufgegeben hatte, nicht gelernt hatte.
Nervös zupfte
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