Alissa 1 - Die erste Wahrheit
»Ah …«, schrie Strell auf, denn sein Knöchel, den er sich bei seinem Sturz erneut verstaucht hatte, machte schmerzhaft auf sich aufmerksam. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er glitt wieder zu Boden. Er kniff die Augen zu und umklammerte seinen Knöchel mit beiden Händen. Zu Asche wollte er verbrannt sein, dachte er. Nun war sein Knöchel wieder so schlimm wie vor einer Woche.
»Oh«, sagte der hagere Mann. »Lass mich dir helfen.«
Er spürte einen warmen Druck an der Schläfe. Von dort aus floss etwas, so rein und wahrhaftig wie Honig im Sommer, durch seinen ganzen Körper und wärmte ihn von innen. Die Hitze wirbelte und kreiste und sammelte sich in seinem Knöchel, bis der Schmerz nachließ. Dann, wie Wasser, das im Sand versickerte, war das Gefühl verschwunden. Strell erschauerte. Der Schmerz in seinem Knöchel war so lange ein Teil von ihm gewesen, dass sein Fehlen jetzt beinahe greifbar schien.
Er öffnete die Augen. Erschreckend dicht vor sich erblickte er ein weises Gesicht, ein wenig faltig und von der Sonne gebräunt. Nicht alt, aber auch alles andere als jung. Der Mann strahlte eine seltsame Mischung von friedvoller Gelassenheit und gespannter Konzentration aus. Doch es waren seine Augen, die Strell nicht mehr losließen. Sie wirkten müde, aber dennoch wach und aufrichtig. Ihre Farbe war das Erstaunlichste, ein unnatürlicher, bräunlicher Goldton. »Hm-hm«, murmelte der Mann, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und betrachtete ihn stumm. Die Lichtkugel ruhte nun zwischen ihnen wie ein Kochfeuer.
Bailic hatte nie so etwas geschaffen, dachte Strell und streckte den Finger nach der Kugel aus, um festzustellen, ob sie warm war. Der Mann räusperte sich, und Strell zog hastig die Hand zurück. »Ihr …« Strells Stimme brach. »Ihr seid Nutzlos.«
»Nicht gänzlich, aber ja«, sagte die Gestalt mit einem rauen Kichern.
Strells Miene hellte sich auf. »Frei!«, rief er und rappelte sich auf. »Ich bin gekommen, um Euch hier herauszuholen!«
Nutzlos schüttelte den Kopf. »Wenn es einen Weg gäbe, wäre ich längst fort.«
Schon beinahe aufrecht stehend, zögerte Strell. »Ich bin durch das Gitter gekommen.«
»Nun, ich könnte es nicht passieren. Es ist mit einem Bann belegt, der speziell meinesgleichen zurückhält. Ich kann nicht entkommen.«
Bei diesen Worten stürzte Strells großer Plan, sich und Alissa aus Bailics Klauen zu befreien, in sich zusammen. Er ließ sich schwer auf den Steinboden sinken und starrte verbittert auf seine dunkelgrünen, nassen Schuhe. Wie konnte er so dumm gewesen sein zu glauben, er könne Nutzlos befreien, wenn Nutzlos sich nicht selbst befreien konnte? Er hatte das Spiel um Alissas Leben verloren. Die Wölfe sollten ihn holen. Er war ein Träumer, der in der Sonne verdursten würde.
Mit einer einzigen fließenden Bewegung stand Nutzlos auf und streckte die Hand aus. »Bitte entschuldige, dass ich dich nicht am Tor empfangen habe. Ich habe dich nicht erwartet.«
»Natürlich«, sagte Strell geistesabwesend, in Gedanken ganz bei Alissa. Ihm blieb nur noch ein Tag. Er würde noch einmal mit Bailic sprechen und eine Verlängerung erbitten. Oder sonst irgendetwas. Bein und Asche. Was sollte er nur tun?
Strell ergriff die seltsam geformte Hand und wurde auf die Füße gezogen. Nutzlos’ Berührung ließ ihn schaudern und erinnerte ihn an seine Panik, als er sich eingebildet hatte, der Mann sei eine Bestie mit glühenden Augen. Strells Blick huschte zu der dunklen Ecke, wo er glaubte, das Ungeheuer gesehen zu haben.
»Dort hinüber«, sagte Nutzlos und riss ihn aus seinen beunruhigenden Gedanken. »Dort ist es wärmer.« Er deutete auf das helle Viereck. »Das«, fügte er trocken hinzu, »weiß ich ganz genau.«
Als Strell vorsichtig den Fuß aufsetzte, blieb ihm der Mund offen stehen. Er fühlte keinen Schmerz. Sein Knöchel war geheilt! So etwas gab es doch nur in Märchen und Geschichten, aber nicht in Wirklichkeit! »Ich danke Euch«, hauchte er und stampfte kräftig mit dem Fuß auf, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich völlig geheilt war. »Asche. Ihr habt meinen Knöchel geheilt. Wie –«
Nutzlos ging auf das Licht zu. »Geheilt?«, warf er über die Schulter zurück. »Nein, keineswegs.«
»Aber der Schmerz –« Strell schrak zusammen, als die Lichtkugel urplötzlich erlosch.
»Eine Illusion. Der Schmerz ist nur betäubt. Aber wenn du weiterhin so mit dem Fuß aufstampfst, wirst du auch die Wirkung der um drei Tage
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