Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Andeutungen und verlässt mich wieder. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, mich zu verwandeln, wenn er mich zum östlichen Tor ruft, damit ich mir seine Prahlerei anhöre. Wenn ich mit ihm fertig bin, wird von seiner perfiden Existenz nichts mehr übrig sein als eine grauenhafte Geschichte, mit der man kleinen Kindern Angst einjagt, damit sie sich vorbildlich benehmen.«
Strell schluckte schwer. Der Hass, den Nutzlos verströmte, fühlte sich machtvoll genug an, um einen König in die Knie zu zwingen. Und obgleich sich dieser Hass augenblicklich nicht gegen ihn richtete, ließ er ihn schaudern.
»Doch du wolltest es mir gerade berichten, nicht wahr?«, sagte Nutzlos, plötzlich vollkommen ruhig.
»Äh, ja.« Strell zappelte nervös, denn diese Launenhaftigkeit beunruhigte ihn. »Einfach ausgedrückt, hatte Alissa Eure Schranken satt.«
»Sie – was!«, explodierte Nutzlos. Der donnernde Schrei hallte in der Höhle wider, und Strell verzog ängstlich das Gesicht. »Meine Schranken satt? Sie waren nur zu ihrem Besten und sollten eine Katastrophe verhindern, nicht heraufbeschwören!« Er atmete bewusst ein und aus und richtete den Blick an die Decke. »Bitte, sprich weiter«, murmelte er dann.
Strell fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte es noch einmal. »Sie hat eine schreckliche Explosion ausgelöst.«
»Das hatte ich bereits vermutet.« Eine Hand wurde ungeduldig in die Luft geschleudert und fächelte Strell den warmen Duft verbrannten Holzes zu. »Ist sie bei Bewusstsein?«
»Bei Bewusstsein?«
»Du hast gesagt, sie sei am Leben. Ich versuche den Schaden abzuschätzen. Ist sie wahrhaft lebendig oder in einer Todesstarre gefangen?«
Nutzlos’ gleichgültiger Tonfall gefiel Strell nicht. »Sie lebt.«
»Ha! Schau mich nicht so vorwurfsvoll an!«, rief der Mann lachend. »Ich habe sie gewarnt. Sie ignorieren mich alle – genau ein Mal. Das wird sie lehren, meine Anweisungen niemals zu missachten, es sei denn in höchster Not – andernfalls wird sie an ihrer eigenen Unwissenheit zugrunde gehen. Zum Mindesten sollte es sie eines lehren – Selbstbeherrschung.«
Strell lehnte sich zurück und sah Nutzlos voller Abscheu an. Dann sagte er: »Was glaubt Ihr eigentlich, wer Ihr seid?«
Der Mann richtete sich auf und ließ die Frage gefährlich in der Luft hängen. Er beugte sich vor, und die Wucht seiner Worte prallte beinahe greifbar gegen Strell: »Ich«, sagte er mit brüchiger, eisiger Stimme, »bin Talo-Toecan, ein Meister dieser Feste und Architekt derselben.«
»Na und!«, erwiderte Strell unverschämt. Errötend hielt er dem hasserfüllten Blick des Mannes stand und weigerte sich zurückzuweichen. Er brauchte sich das nicht gefallen zu lassen. Seine Kleider mochten schäbig sein, und er schlief vielleicht in einem geliehenen Bett, doch er trug einen verbrieften Namen und konnte seine Abstammung über zahllose Generationen zurückverfolgen bis zu der Handvoll Familien, die sich zuerst im Tiefland niedergelassen hatten. Einen schrecklichen, langen Augenblick starrte Nutzlos ihn in steifer Empörung an. Schließlich zog er eine Grimasse, seufzte und ließ sich zurücksinken, während seine Stirn sich wieder glättete. »Ganz recht, Strell«, grollte er. »Ich habe deine einmalige Position vergessen. Es ist lange her, seit sich jemand in meiner Feste aufgehalten hat, der kein Schüler ist – oder einmal war. Bitte fahre fort.« Er schien in der Sonne schläfrig zu werden, denn er schloss die Augen.
Dass er Strells Vornamen benutzte, war eine Überraschung. Stets hatte er Strell Barde genannt, oder Spielmann, oder gar Wiederbringer verwahrloster Weisen, was auch immer das heißen sollte, doch kaum je seinen Namen ausgesprochen. Vielleicht, dachte Strell, war er nun endlich als er selbst akzeptiert worden und wurde nicht mehr als Untergebener angesehen, der unterrichtet und angeleitet werden musste. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie gefährlich seine Worte gewesen waren, und er senkte den Blick. Nutzlos’ Laune hätte ebenso gut ins andere Extrem umschlagen können. Der Kerl war so empfindlich wie ein Tiefländer mit sechs hässlichen Töchtern.
»Alissa kommt wieder zu Kräften.«
»Tatsächlich?« Nutzlos’ Augen öffneten sich. »Sie ist also nicht nur am Leben, sondern sogar wohlauf.« Als könnte er sich nicht davon abhalten, schloss er erneut die Augen.
»Das würde ich nicht sagen«, murmelte Strell, der auf dem schmalen Grat zwischen Sachlichkeit und Vorwürfen balancierte.
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