Alissa 1 - Die erste Wahrheit
schmerzende Hand ausschüttelte, doch dieser Bann hatte ihn offensichtlich als harmlos verworfen. Zuversichtlich, dass die Gitterstäbe ihn durchlassen würden, folgte er dem Vogel in die größere Höhle.
Strells Augen weiteten sich. Dem Echo seiner Schritte nach zu schließen, musste die Höhle riesig sein. Das Gefühl, im Zwielicht eines uralten Waldes zu stehen, war nun noch stärker, da er den dicken Säulen so nahe war. Er stützte sich auf Alissas Stab und verrenkte sich den Hals, um nach der Decke zu spähen. Er konnte sie nicht sehen. »Nutzlos?«, rief er laut, doch er hatte kaum noch Hoffnung, dass der Mann tatsächlich hier war. Die Höhle sah nicht aus wie eine Zelle. Eher wie ein Tempel.
Seine Füße scharrten auf dem Boden und ließen Echos flüsternd durch die Dunkelheit hallen wie schlechte Versprechungen, die niemand halten wollte. Verglichen mit der muffigen Dunkelheit, in der er sich jetzt bewegte, kam ihm der kleine Vorraum, wo er seine Fackel zurückgelassen hatte, geradezu hell und warm vor. Die Wände der Höhle erstreckten sich glatt und makellos zu beiden Seiten des Gitters, um sich in der Schwärze zu verlieren. »Nutzlos!«, rief er. »Wenn Ihr hier seid, dann zeigt Euch.« Strell stieß resigniert den Atem aus, als seine Worte hohl zurückhallten. Nutzlos war nicht hier. »Sonst gehe ich wieder!«, fügte er sicherheitshalber hinzu.
Ein kehliges Grollen ertönte, und ein kräftiger Windstoß von hinten fegte ihn beinahe zu Boden. Strell wirbelte herum, wobei er fast Alissas Stab fallen ließ. Er kämpfte darum, das Gleichgewicht zu halten, und keuchte entsetzt auf, als sein Blick auf den zweier Augen traf, die ihn boshaft anfunkelten. Sie waren so groß wie Teller und schwebten etwa zwei Mannslängen hoch über dem Boden. Strell glaubte, einen langen, geschwungenen Hals zu erkennen und einen Schimmer wie von Zähnen. Ihm stockte der Atem, und er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
Unter leisem Flügelrauschen stürzte Kralle zwischen Strell und dem seltsamen Schatten herab. Strell, ohnehin schon der Panik nahe, wirbelte erneut herum und hätte sie beinahe mit dem Stab getroffen. Kralle kreischte und flatterte auf der Stelle, bis Strell schützend den Arm hob, auf dem sie höflich Platz nahm. Ein leises Knurren drang aus der Dunkelheit.
Strell fielen die glimmenden Augen wieder ein, und er fuhr erneut herum. Mit einem schmerzhaften Stich versagte sein Knöchel den Dienst. Diesmal verlor er tatsächlich das Gleichgewicht. Er stürzte und schlug mit einem scharfen Aufschrei, begleitet von klapperndem Holz, auf den Boden. Obwohl der Vogel verärgert kreischte und Strell große Schmerzen hatte, schaffte er es, hastig rückwärtszukrabbeln. Sein einziger Gedanke war, so viel Abstand wie möglich zu dem Ding zu gewinnen, das in den Schatten lauerte, was immer es auch sein mochte.
»Strell?«, erklang eine zögernde Stimme in der Finsternis. Strell erstarrte vor Schreck.
Ein sanfter Lichtschein breitete sich über ihm aus und verscheuchte die Schatten. Das Ungeheuer war verschwunden. Beleuchtet von einer etwa kopfgroßen Kugel aus Licht stand die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes vor ihm.
– 38 –
V om Boden aus blickte Strell erleichtert und verlegen zu der Gestalt vor ihm auf. Das musste Nutzlos sein. Er war wie Bailic gekleidet, aber in Gelb- und Goldtöne, nicht in Schwarz. Seine Ärmel waren allerdings so weit, dass sie halb bis zum Boden herabhingen.
Mit leicht gerunzelten Brauen erwiderte der Mann seinen Blick. »Wie bei den Wölfen bist du hier heruntergelangt?«, fragte er mit einer Stimme, die für einen so schmächtigen Körper überraschend tief klang.
»Ich habe etwas in die Tür geklemmt, als Bailic sie geöffnet hat«, erklärte Strell atemlos.
Die Augenbrauen des Mannes hoben sich. Er schob die Lichtkugel unter seinen Arm, trat vor und streckte eine kräftig aussehende, aber seltsam geformte Hand aus, um Strell auf die Beine zu helfen.
Strell zögerte, streckte dann ebenfalls die Hand aus, riss sie jedoch zurück, als Kralle zu fauchen begann.
»Fort mit dir, Vogel«, sagte der Mann gereizt. »Kümmere dich um deine Herrin.«
Kralle gab ein überraschtes Piepsen von sich und flog auf das ferne Rechteck aus Tageslicht zu. Der Mann stand da wie zu Stein erstarrt und sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Er seufzte leise. »Lass dir aufhelfen«, sagte er und streckte erneut die Hand aus.
Strell packte sie, und der Mann zog ihn auf die Füße.
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