Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Strell stieß zischend den Atem aus. Das musste Alissas Vater gehört haben – dies war das Bündel, von dem sie ihm erzählt hatte.
Strell zog sich zurück, stellte sich zwischen die Tür und den Rahmen und riss einen schmalen Streifen Stoff von den Verbänden um seinen Knöchel ab. Er rollte ihn fest zusammen, klemmte ihn in die Ecke des Türrahmens und schob die Tür langsam wieder zu, wobei er beim geringsten Geräusch das Gesicht verzog. Nun brauchte er nur noch zu warten, bis Bailic zurückkehrte. Er wollte nicht riskieren, in dieses finstere Loch im Boden hinabzuklettern, wenn die Gefahr bestand, dass Bailic ihm entgegenkam. Mit ein wenig Glück würde der bleiche Mann seine Manipulation an der Tür nicht bemerken.
Strell versteckte sich in einem der Tunnel zu den Kellern und hockte sich hin. Überrascht ertappte er sich dabei, wie er die Ballade vom »Bettler Däumling« vor sich hin summte, und befahl sich selbst, still zu sein. Langsam wanderten die Sonnenstrahlen über den Boden der Halle, und er gähnte und nickte bald ein, trotz des kalten Luftzugs in seinem Nacken.
Ein gedämpftes Poltern aus der Küche, gefolgt vom Aufschrei einer Frauenstimme, riss ihn aus dem Schlaf. Strell sprang auf und lächelte dann, als Kralle hastig aus dem Speisesaal geflogen kam.
»Und bleib ja draußen!«, hörte er Alissa schreien. Der Pechvogel landete auf dem Geländer der Galerie im dritten Stock und begann wütend, sich zu putzen. Mehlstaub sank herab und tanzte in einem Sonnenstrahl. Grinsend wollte Strell sich wieder hinsetzen. Doch auf halbem Weg zum Boden hörte er das Scharren von Stein auf Stein und erstarrte, das Gewicht auf dem verletzten Fuß. Er achtete nicht auf den stechenden Schmerz in seinem Knöchel, sondern beobachtete, wie Bailic den Kopf aus dem Türspalt schob und direkt zu den Tunneln blickte. »Bei den Wölfen«, fluchte Strell und wich weiter zurück. Doch Bailic wirbelte herum, als hätte er es sehr eilig, und stieß die Tür zu.
»Bitte, bitte, bitte übersieh es einfach«, flüsterte Strell und tastete nach dem Messer in seinem Stiefel. Er hatte noch nie einen Menschen getötet. Und was konnte er schon gegen einen Bewahrer ausrichten, der eine gesamte Festung ausgelöscht hatte? Er würde durch List siegen oder gar nicht.
Bailic hielt inne und betrachtete die Tür.
Strell hielt den Atem an.
Der misstrauische Mann blickte wieder zu den Kellertunneln herüber, trat dann zurück und musterte die Tür, die Hände in die Hüften gestemmt. Dann hob er die Hände und strich mit den Fingern über den feinen Spalt.
»Kirri, kirri, kirri«, kreischte Kralle vom dritten Stock aus, so dass beide Männer zusammenzuckten. Sie plusterte sich auf, und eine Feder segelte langsam herab. Strell beobachtete sie atemlos, während sie in weiten Kreisen zu Boden schwebte.
Mit raschelnden Gewändern drehte sich Bailic um. Einen Moment lang sahen Mann und Vogel einander stumm an. Dann schwang Kralle sich in die Luft und verschwand treppaufwärts. »Ganz recht«, brummte Bailic. »Dieser nervtötende Pfeifer wird bald gefunden haben, was auch immer er in der alten Küche sucht, und seinen Posten wieder beziehen.« Mit einem letzten, abschätzigen Blick auf die Tunnel wirbelte er herum und folgte Kralle die Treppe hinauf.
Strell sank erleichtert zurück, als Bailic außer Sicht geriet. Dann lauschte er, bis Bailics Schritte verklungen waren. Er kam sich vor wie die sprichwörtliche Maus, als er aus seinem Tunnel spähte und hastig den offenen Raum durchquerte. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, als er die Tür aufstemmte und durch den Spalt schlüpfte. Flügel rauschten leise, und Kralle landete auf seiner Schulter. »Neugierig?«, flüsterte er. Der Vogel hatte ihn noch nie zuvor begleitet, und Strell schöpfte neuen Mut.
Er griff nach einer Fackel, doch sie war nutzlos ohne eine Flamme, an der er sie entzünden konnte. Er verzog das Gesicht und blickte hinaus in die helle Halle. Er könnte sie in der Küche anzünden, doch dann würde Alissa wissen wollen, was er vorhatte. Unsicher huschte sein Blick zu dem Bündel. Vielleicht enthielt es Zündzeug.
Unter größten Bedenken zog Strell das Bündel in den schmalen Lichtspalt, der durch die Türöffnung hereinfiel. Ein Bann sandte sein schwaches Kribbeln aus und verkrampfte seine Finger, doch es war rasch vorüber. Aus schmerzlicher Erfahrung wusste Strell, dass dieses Kribbeln eine Warnung war, die entweder rasch verklang oder einen schmerzhaften Schock
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