Alissa 1 - Die erste Wahrheit
auf dem kalten Stein saß, wandte sich zu ihm um. »Warum ist es denn so schlimm, dass sie lesen kann?«
Nutzlos starrte weiterhin ins Leere. »Die Erste Wahrheit ist in einer Schrift verfasst, die Alissa lesen kann. Ich habe das Buch ihrem Vater anvertraut, zum Teil deshalb, weil ich gerade mit einer kleinen Schäkerei be… äh, weil ich beschäftigt war, und zum Teil, weil ich den Eindruck hatte, dass das Buch ihn anerkannte, unvollkommen zwar, aber … Wenn es Bailic in die Hände fällt, wird er kaum etwas von dem darin enthaltenen Wissen verstehen können. Doch mit Alissas Hilfe, freiwillig gewährt oder erzwungen, könnte er den Zweck entschlüsseln. Dann wäre er in einer sehr starken Position, um Unheil anzurichten.«
»Unheil?«, fragte Strell.
»Jawohl, Barde. Unheil, wie es die Welt seit fast vierhundert Jahren nicht mehr erleben musste.«
Unbehagliches Schweigen senkte sich herab. Nutzlos brach es schließlich, und seine Worte ließen darauf schließen, wo er in Gedanken gewesen war. »Er muss begonnen haben, sie zu unterrichten, ehe sie fünf Sommer alt war.«
»Sie war vier«, erklärte Strell.
»Ja, das stand zu vermuten. Meson hat die Dinge immer so angepackt, wie er es für richtig hielt.«
Strell scharrte mit einer Schuhsohle auf dem Boden herum. »Seine Tochter ist ihm sehr ähnlich.«
»Allerdings.«
Nutzlos stand so reglos vor dem Westtor wie der Berg, in dem er gefangen war, den Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und in der plötzlichen Kühle hob er den Kopf. »Du musst gehen, bevor man dich vermisst«, flüsterte er.
»Bei den Hunden, ja.« Alissa fiel ihm wieder ein, und Strell stand ungeschickt auf und klopfte seine Kleider ab. Da war dieser lange, enge Gang, den er ganz allein bewältigen musste, danach stand ihm die Demütigung bevor, um mehr Zeit zu betteln, und dann die grauenhafte Aufgabe, Alissa alles zu erklären, nachdem Bailic die Verlängerung verweigert hatte. Es musste eine andere Möglichkeit geben.
Nutzlos drehte sich um. »Tut nichts, was Bailic darauf bringen könnte, dass er sich getäuscht hat, was euer beider Identität angeht. Das ist zwar riskant für euch beide, doch es scheint mir die klügste Vorgehensweise zu sein. Wir müssen unverändert weitermachen und hoffen, dass irgendwo noch jemand existiert, der in der Lage ist, mich zu befreien, und meinen Ruf um Hilfe hört. Falls Bailic Verdacht schöpft, dass du den Weg hier herunter gefunden hast, würde er sich gezwungen sehen, drastische Maßnahmen zu ergreifen.«
Strell trat von einem Fuß auf den anderen. Wenn er Nutzlos von seinem Tauschgeschäft erzählen und um seine Hilfe bitten wollte, dann musste er es jetzt tun. Doch als er aufblickte, begann Nutzlos leise zu lachen. Als er Strells fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, erklärte er: »Du, Strell, siehst aus wie ein Bewahrer: der Schnitt deiner Gewänder, deine Schuhe, bei den Hunden meines Herrn, sogar deine Neigung zu kleinen Unfällen. Kein Wunder, dass Bailic sich hat täuschen lassen. Vielleicht können wir die Situation doch noch zu unserem Vorteil nutzen.«
»Es wäre leichter, wenn Ihr frei wärt.« Strell verzog das Gesicht.
»Allerdings«, stimmte Nutzlos milde zu. »Bailic könnte sich in etwa noch so lange halten wie der Morgennebel, wenn ich ihm frei und ungebunden begegnen würde. Wenn es je dazu kommt, werde ich die Pfade seines neuralen Netzes einzeln verbrennen, einen – nach – dem – anderen.« Nutzlos seufzte vor Vorfreude. »Erst einen hier, dann einen dort, und er wird zusehen müssen, wie ich systematisch sein Wissen vernichte, bis er sich nicht einmal mehr daran erinnern kann, wie man niest. Er wird noch sehr lange weiterleben.« Nutzlos lächelte sehnsüchtig. »Sofern ich ihn daran hindern kann, sein jämmerliches Leben vorzeitig zu beenden.«
Strell konnte ein Schaudern nicht unterdrücken und wandte sich ab. Nutzlos’ warme, volle Stimme in so gewählten Worten über derartige Gräueltaten sprechen zu hören erschütterte ihn. Wieder einmal war er unendlich froh, Nutzlos auf seiner Seite zu wissen. »Wie«, fragte er, »ist es Bailic überhaupt gelungen, Euch hier einzuschließen?«
Nutzlos erstarrte und sah ihn mit kaltem Blick an. »Glaubst du wirklich, ich würde dir das sagen?«, fuhr er auf und zog herausfordernd die Brauen in die Höhe.
»Äh, nein.« Strell wollte Nutzlos noch nichts von seinem Handel erzählen und blickte in die Dunkelheit, hinter der das
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