Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Irrtum sein.
Unwillkürlich sprang er auf, wobei er seinen Wein verschüttete. Der rote Fleck breitete sich über den dunklen Wasserfleck am Boden aus. »Ich muss gehen«, hörte er sich sagen.
Petard erhob sich mit erschrockener Miene. »Ho, Strell«, sagte er sanft. »Ich weiß, das kommt sehr plötzlich und tut sehr weh, aber lauft jetzt nicht davon.«
»Ich muss es selbst sehen!«, rief Strell, einer Panik nahe.
Eine starke Hand packte ihn am Arm. »Da gibt es nichts zu sehen. Bleibt hier, bis Ihr wieder klar denken könnt. Ich habe reichlich zu essen. Ich kenne Eure Arbeit. Ihr habt einen Platz bei uns, so lange Ihr wollt.«
Strell wich zurück, vor Panik zitterten ihm die Knie. Wie konnten sie fort sein, ohne dass er es wusste? Er betrachtete das Gedränge von Menschen um ihn herum, vertraut und doch fremd nach so vielen Jahren. Es fühlte sich falsch an. Er war falsch. Sie waren alle falsch. Er musste weg. Er hätte niemals zurückkehren dürfen. Zurückkehren, nur um das hier vorzufinden.
»Strell!« Die Hand packte ihn nun an der Schulter, und Strell taumelte zurück, voller Angst, dass sie ihn zum Bleiben zwingen würden. »Wartet doch, Junge. Ihr könnt nicht einfach in die Wüste laufen.«
»Ich muss es sehen«, sagte er heiser.
Petard schüttelte den Kopf. »Erspart Euch das, mein Junge. Die Schlucht wurde bis auf den kahlen Fels leergespült. Da ist nichts mehr, zu dem Ihr zurückkehren könntet. Ich weiß es. Sobald ich davon gehört hatte, bin ich hingegangen, um nachzusehen, ob vielleicht etwas Wertvolles verschont geblieben ist.« Er verzog das Gesicht. »Ich meine, ob jemand verschont geblieben ist«, verbesserte er sich lahm.
Zorn flammte auf, ein willkommener Kanal für seinen Schmerz. »Leichenfledderer!«, spie Strell. »Ihr konntet es wohl kaum abwarten, bis mein Vater tot war, ehe Ihr seine Werkstätten geplündert habt.«
Petards Gesicht verfärbte sich rot, und die Narben eines überstandenen Sandsturms hoben sich weiß von seiner gegerbten Haut ab. »Die Trauer lässt Euch alle Vorsicht vergessen, Junge«, erklärte er düster. »Passt auf, was Ihr sagt. Ich mochte Euren Vater genauso gern wie alle anderen. Er hatte wahres Talent. Einige sagen, er hätte es Euch vererbt.«
Strell drehte sich zu der Menschenmenge um, ohne sie zu sehen.
»Die Wüste hat sie sich geholt, Strell. Sie sind fort.«
Strell fuhr herum und blickte wie betäubt in Petards Augen. Sie waren so dunkel wie die seines Vaters. »Vater«, flüsterte er, und es schmerzte so sehr, dass er sich beinahe krümmte.
»Bleibt bei uns«, sagte Petard sanft. Matalina stand hinter ihm und sah traurig und einladend aus. Ihr Haar war so lang und prächtig wie das seiner Schwestern. Strell riss den Blick von ihr los. Seine Schwestern, ertrunken in der Flut, während er sich an der Küste amüsierte. Sie waren im Sand begraben wie die Tiere, ohne Trauerzeremonie, ohne besondere Beachtung. Kein Feuer hatte ihnen den Weg erhellt, keine Flammen ihren unsterblichen Geist befreit.
»Wo wollt Ihr zur kalten Zeit Euer Zelt aufbauen?«, fragte Petard verlockend. »Wer außer einem anderen Töpfer würde auch nur daran denken, Euch aufzunehmen – einen Mann, der nicht von seinem Blut ist?«
»Niemand«, flüsterte Strell, der nur zu gut wusste, dass das stimmte. Ohne seine Familie war er tot.
Petard holte tief Luft. »Ich habe keine Söhne. Bleibt bei mir. Ich werde Euch meinen Namen geben.«
Strells Kopf fuhr hoch. Sein Herz hämmerte. »Nein!«, keuchte er und riss sich dann zusammen. »Nein«, wiederholte er leiser. Sein Name. Die Wüste hatte ihm seine Familie genommen. Nun wollte sie auch noch seinen Namen.
Petard wich zurück, offensichtlich beleidigt. Matalina trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Strell wusste zwar, dass es unentschuldbar grob von ihm war, Petard so unumwunden zurückzuweisen, doch seine Trauer ließ keine andere Antwort zu. Ein Teil von ihm staunte über Petards Weitsicht. Eine solche Abmachung würde sie beide retten. Strell brauchte die Unterstützung einer Familie, um in der Wüste zu überleben, und Petard brauchte einen männlichen Erben, damit seine Familie nicht ausstarb. Wenn er jetzt ja sagte, würde er sie beide damit retten. Sein kalter, logischer Tiefländer-Verstand sagte: Nimm an, doch sein Tiefländer-Herz weigerte sich. Sie wollten ihm seinen Namen nehmen.
»Nein?«, wiederholte der große Mann knapp, wobei er sich sichtlich beherrschen musste.
»Ich werde nicht ins Tiefland
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