Alissa 1 - Die erste Wahrheit
zurückkehren«, hauchte Strell, der weder auf seinen Verstand noch auf sein Herz hören konnte. Überall würde er die Schatten seiner Eltern sehen. Die Wüste hatte sich seine Familie geholt. Wie konnte er dorthin zurückkehren? Er hasste den Sand, die flache Landschaft, einfach alles.
»Nun, im Hochland könnt Ihr jedenfalls nicht bleiben«, erklärte Petard scharf. »Sie werden Euch erschlagen, noch bevor Ihr verhungern könnt.« Dann wurde sein Blick weicher. »Nehmt doch Vernunft an, Junge. Es ist ein guter Handel für uns beide.«
Strell ließ sich auf den Boden sinken und barg den Kopf in den Händen. Wie konnten sie alle tot sein, ohne dass er davon wusste?
Ein Stiefel scharrte über den Boden, als Petard vortrat, um eine väterliche Hand auf Strells Schulter zu legen. »Es tut mir leid. Vielleicht hätte es einen besseren Weg gegeben, es Euch zu sagen, aber ich wusste keinen.« Verlegen zögerte er. »Ich werde über Eure voreiligen Worte hinwegsehen, weil die Trauer aus Euch sprach. Es ist schon fast dunkel. Kommt mit uns zum Rand dieses stinkenden kleinen Ackers von einem Dorf und bleibt über Nacht. Lasst Euch mein Angebot noch einmal durch den Kopf gehen. Und morgen gebt Ihr mir Eure Antwort.«
Strell sagte nichts und zog sich noch tiefer in sich selbst zurück. Wenn er sich die Sache durch den Kopf gehen ließ, würde er ja sagen, sobald seine Logik den Schmerz überwand. Er würde sich in ein Leben mit Matalina und Petard fügen, das nur ein halbes Leben war. Er würde dazu herabsinken, eine Lüge zu leben. Er würde ja sagen. Und das wollte er nicht.
Strell spürte einen schwachen Funken der Entschlossenheit in der Düsternis seiner Trauer aufflackern. Wenn er im Hochland nicht überleben konnte, würde er eben an die Küste zurückkehren. Strell wusste, dass Petard damit nicht einverstanden sein würde. Das stolze Sippenoberhaupt würde Strell vermutlich bewusstlos schlagen, um ihn zurück in die Wüste zu schleifen. Doch hier gab es nichts mehr für ihn – seine Zukunft lag im Sand begraben. »Lasst mir einen Augenblick Zeit«, flüsterte Strell, der wusste, dass Petard ihm so lange keine Ruhe lassen würde, bis er glaubte, Strell würde sein Angebot annehmen.
Wie erwartet gab sich der große Tiefländer damit erst einmal zufrieden und wies seine Tochter an, die Pferde anzuschirren. »Aber Papa …«, flüsterte Matalina, und ihre sanfte, ein wenig rauchige Stimme ließ die Erinnerung an seine Schwestern erneut über ihn hereinbrechen.
»Lass ihn«, sagte Petard grimmig. »Er muss sich betrinken oder prügeln, oder beides. Ich möchte jedenfalls nicht dabei sein. Morgen früh werden wir ihn schon finden.«
Strell blieb sitzen wie zu Stein erstarrt, während die beiden einpackten und abfuhren. Ihren Abschiedsgruß nahm er nicht zur Kenntnis. Er unterdrückte ein Schaudern, als Matalina ihm zum Abschied sanft die Hand auf die Schulter legte. Ein kleiner Teil von ihm bemerkte, dass er nicht mehr im Schutz des Wagens saß. Langsam erlosch das vernachlässigte Feuer. Feuchte Kühle stieg auf, und es wurde still, als sich der Marktplatz leerte. Die tröstlichen Geräusche – schnaubende Pferde und klimperndes Zaumzeug – verstummten.
Er regte sich erst, als der Himmel sich verdüsterte und die Kinder zum Abendessen nach Hause gerufen wurden. Petards Angebot war beängstigend großzügig, doch selbst wenn er es annähme, wäre er immer noch ein Außenseiter. Sie waren nicht seine Sippe, nicht sein Blut. Es würde ihn wahnsinnig machen, beinahe dazuzugehören, aber doch nicht ganz. Er musste zurück an die Küste. Dort kannte er Leute und konnte sich anpassen, dazugehören. Es wäre nicht die Heimat, nur ein Ort, an dem er sich aufhalten konnte. Aber es war gefährlich spät für den Rückweg.
Strell stand auf und schulterte sein Bündel. Jetzt hatte er immerhin eine Karte. Mit ihrer Hilfe würde es ihm vielleicht gelingen, die Pässe zu überqueren, bevor die Berge im Schnee versanken. Er hatte einen besseren Handel geschlossen, als er hätte ahnen können – ein Stückchen Seide gegen seine geistige Gesundheit.
Er schlich durch das Dorf. Licht und Lärm drangen einzig aus der offenen Tür und den Fenstern einer Taverne. Die Häuser wurden immer weniger, und schließlich ließ er sie ganz hinter sich. Er taumelte durch die mondlose Nacht den Weg zurück, den er gekommen war, verloren wie im Nebel, und versuchte, seiner Trauer davonzulaufen. Blindlings folgte er dem Pfad, der ihn aus den
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