Alissa 1 - Die erste Wahrheit
längst verstrichen, doch die lange Dämmerung in den Bergen ließ ihn im Zwielicht seinen Weg finden. Also ging er weiter, weil er in der ständigen Bewegung einen falschen Seelenfrieden fand. Wenn er anhielte, würden die Erinnerungen ihn einholen.
Strell bahnte sich in der Dämmerung einen Weg bergauf und spürte kaum die Nadelstiche der Dornenranken. Er glaubte sich auf demselben Weg, auf dem er heruntergekommen war. Remas Karte zufolge nahmen einige Pfade durchs Gebirge ihren Ausgang auf der Felsklippe, die er gestern erklommen hatte. Wenn er sie wiederfinden konnte, wäre das ein guter Anfang für eine erfolgreiche Rückreise.
Das Gebüsch wurde plötzlich dichter, und Strell hielt inne. Er legte eine Hand an die Seite und merkte erst jetzt, dass er keuchte. Sein Magen schmerzte. Das konnte kein Hunger sein. Wie konnte er Hunger haben, wenn seine Familie tot war? Sie waren bereits seit fünf Jahren tot.
Strell schloss die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und stieß seine Trauer entschlossen fort. Er würde nicht nachdenken. Das konnte er sich nicht leisten. Abrupt begann er, sich durch das dichte Unterholz zu schlagen, bis es plötzlich nicht mehr weiterging. Er hatte die Klippe gefunden.
Seine Füße blieben wie von selbst stehen, da sie keine klare Richtung mehr erkannten. Zitternd stand er im kühlen Odem der Nacht und blickte mit leeren Augen über das Tal. Die Erschöpfung übermannte ihn, und er sank neben den mit Asche bedeckten Resten eines fremden Feuers nieder. Er schürte es nicht neu an; seine Hände blieben still liegen. Sein Körper lehnte sich gegen diese Schinderei auf und verweigerte jede weitere Bewegung, also übernahm nun sein Verstand, drehte sich rasend im Kreis, rannte hierhin und dorthin und suchte nach einer Möglichkeit, all das zu begreifen. Strell begann vor Erschöpfung und Hunger zu zittern, unternahm aber immer noch nichts, als die Sterne erschienen und der Abendtau aufstieg.
Ein plötzlicher Windstoß blies die Asche von dem Holz vor ihm und enthüllte die schwarzen, verzerrten Überreste eines
Astes. Er erschauerte bei diesem Anblick, und ein Funken Bewusstsein erwachte in seinem Geist. Im Schutz der Dunkelheit kehrten seine Gedanken zu seinen Brüdern zurück, wie Tiere im Sand begraben. Seine Augen schlossen sich vor Schmerz, als er an seine Schwestern dachte. Sich vorzustellen, wie sie irgendwo im Boden lagen, wo die Flut sie achtlos hingeworfen hatte, war beinahe unerträglich. Und dann seine Eltern, unerschütterlich in ihrer ungewöhnlichen Überzeugung, dass Strell seinen eigenen Weg finden musste, obwohl sie ihm nie sagen wollten, warum. Sie alle waren fort. Er sollte dafür bestraft werden, dass er noch am Leben war, seine Familie aber tot.
Er biss die Zähne zusammen und rang um Beherrschung. Sein Atem ging keuchend, und er ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Neiiin!«, heulte er in die Nacht hinaus und trommelte mit den Fäusten auf den Boden. »Das ist nicht recht! Das kann nicht wahr sein!«, schrie er, als sich die Gefühle, die er doch gar nicht wollte, Bahn brachen. Aber es war die Wahrheit, und er wusste es. Sein gesamtes Leben war fort.
Die Grillen zirpten, als Strell allmählich ruhiger wurde, doch er war zu sehr von Schmerz zerrissen, um Trost zu finden. Nicht einmal der silbrige, verstörende Gesang der Wölfe weckte eine Regung in ihm. Sie nahmen sein Klagelied auf, als er nicht mehr konnte, und erfüllten für ihn die Nacht mit seinem Schmerz. Die Tiere kannten den Jammer des Verlustes, der sie kalt und allein in der stillen Tiefe des Winters fand, und ihre Klage war ihm willkommen, elegant und edel in ihrer wilden Aufrichtigkeit.
Strell hockte an der kalten Feuerstelle, die Arme fest um die Knie geschlungen, allein in seinen Gedanken und nun auch allein auf der Welt. Er befühlte seine Flöte, als sei sie das letzte wirkliche Ding, und fragte sich, welchen Weg er am Morgen einschlagen sollte. Froh über diese Ablenkung, wandte er sich seinem Bündel zu und suchte nach der Karte. Seine Stirn runzelte sich, als seine Finger auf etwas Rundes, Hartes stießen. Es war ein Apfel. Strell schloss kläglich die Augen. Matalina hatte ihn vermutlich in sein Bündel geschmuggelt, ohne dass ihr Vater es bemerkt hatte. Da war auch ein Stück Käse.
Er legte den Apfel beiseite und stellte erschrocken fest, dass seine Finger zitterten, als er versuchte, in der Asche des alten ein neues Feuer zu entzünden. Vielleicht sollte er etwas
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