Alissa 1 - Die erste Wahrheit
da er zum ersten Mal seit zwei Tagen hungrig war, beschloss er zu warten. Doch der Gedanke an Essen machte ihn zehnmal hungriger. Strell öffnete sein eigenes Bündel, zog den Beutel mit seinen Vorräten heraus und sah nach, was bald verderben könnte. Sein Blick glitt zu seinem Feuer, und er entschied, dass er sich auch gleich etwas Warmes kochen konnte. Strell wühlte sich bis ganz nach unten zu seinem Dreibein durch. Die unhandlichen Metallstangen waren oft eher lästig als nützlich, und er mühte sich ab, das Gestell aufzubauen, ohne sich die Finger zu verbrennen.
Während der Arbeit summte er selbstvergessen ein Tanzlied vor sich hin. Er ertappte sich dabei, runzelte die Stirn und verstummte, doch sobald seine Aufmerksamkeit abschweifte, erwischte er sich wieder beim Singen. Strell verdrehte die Augen und richtete sich dann plötzlich auf. Mit dem Wind trieb schwach dieselbe Melodie zu ihm herüber, auf einer Flöte gespielt – und zwar mehr schlecht als recht.
Strells Blick huschte zu dem verlassenen Bündel. Das Feuer knackte, als wolle es seine Aufmerksamkeit erringen, und er legte geistesabwesend einen weiteren Zweig hinein, erhob sich und klopfte sich die Hände ab. Vorsichtig schob er den Fuß zur Seite und stupste den Wanderstab von sich weg. Vielleicht war das Lager doch nicht so verlassen, wie er gedacht hatte. Vielleicht hatte das Holz nur nicht richtig gebrannt und war deshalb kalt geblieben, was ihn getäuscht hatte. Aber wer auch immer hier lagerte, spielte Musik, und ein Musikant wäre angenehme Gesellschaft. Doch schon verstummte die Melodie. Gleich darauf hörte er Bruchstücke einer weiteren. Die Töne wurden nicht lauter, also beschloss er, nach der Quelle zu suchen.
»Hallo?«, rief er. »Wer flötet in so einer kalten Nacht?« Wieder bekam er keine Antwort. Strell behielt die Möglichkeit einer Falle im Hinterkopf und suchte sich vorsichtig einen Weg zwischen den Felsen hindurch. Die Musik wurde lauter, und er lachte auf, als er die Melodie erkannte. Das war »Taykells Abenteuer«, ein Tavernenlied, das feiste, betrunkene Bauern ebenso gern sangen wie magere Händler aus dem Tiefland. Jeder kannte es, vom Kleinkind, das gerade sprechen konnte, bis hin zur Großmutter, die zu alt dafür wurde.
Der Hauch eines Lächelns spielte um seine Lippen, als er sein eigenes Instrument aus der Manteltasche zog und mitspielte, während er im Geiste den Text mitsang:
»Taykell traf ein Mädchen
s chön wie der Sonne n schein.
Er sagt’ ihr, er sei heimatlos,
d rum bot sie ihm ihr Heim.
Er freut’ sich über Haus und Frau
u nd nahm gleich an mit Wonnen.
Zu spät erschloss sich ihm sein Los
w ie hätt’ er’s ahnen können?«
Nun kam der Refrain. Der andere Spielmann hatte aufgehört, und Strell flötete allein weiter.
»Oh, Vater, hofft auf Töchter,
d ie kämen uns gel e gen …«
»Vorsicht!«, rief eine gedämpfte Stimme, die aus dem Boden selbst zu dringen schien. »Vor dir geht es steil nach unten!«
Strell blieb abrupt stehen. Er blickte nach unten, und seine Augen weiteten sich. Zu seinen Füßen verschwand der Boden im Nichts. »Bei den Hunden«, flüsterte er, »ich wäre beinahe über den Rand gestürzt.«
»Ich kann kaum glauben, dass da tatsächlich noch jemand ist«, rief die Stimme herauf. Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Hast du ein Seil?«
Strell schüttelte seine Überraschung ab, steckte die Flöte weg und starrte angestrengt in die dunkle Schlucht. Am Grund glitzerten schwach die Sterne auf Wasser. Plötzlich war ihm alles klar. »Das ist dein Lager da oben, oder?«, platzte er heraus.
»Ja. Ich liege schon den ganzen Tag hier unten«, sagte die Stimme, die allmählich etwas ungeduldig klang. »Hast du nun ein Seil?« Ihr Akzent klang seltsam. Weder Tiefland noch Hochland, aber irgendwie nach beidem.
»Äh, das würde dich nicht tragen. Ich bin gleich bei dir.« Strell setzte sich hin und rutschte über die Kante.
»Nein! Nicht!«, schrie die Stimme ihm panisch zu.
Strell verlor den Halt und rutschte und holperte zu dem Bach hinab, vor dem er mit einem Rums landete, der ihm die Zähne aufeinanderschlug. Steine und Dreck regneten herab, und er hob die Hände über den Kopf. Nach einiger Zeit hörte der Hagel auf, und er blickte im Halbdunkel in das Gesicht einer jungen Frau.
»Sonst stürzt der ganze Hang über mir zusammen«, beendete sie trocken ihren Satz.
»Entschuldigung.« Vorsichtig stand Strell auf, und sein Fuß rutschte in den
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