Alissa 1 - Die erste Wahrheit
den Rest zum Markt, wo irgendein hochnäsiger, unwissender, selbstgerechter Tiefländer es höhnisch betatscht, bevor er die Hälfte dessen anbietet, was man anständigerweise dafür verlangen kann!«
Alissa hielt inne, um Atem zu schöpfen. Strell saß da und starrte sie entsetzt an. Sie war eine Bäuerin ?
»Und dann«, schrie sie, »wenn wir irgendeine Kleinigkeit bei euch kaufen wollen, heißt es: ›Seht Euch lieber unter diesen Sachen hier um, die entsprechen eher Eurer Preisklasse.‹« Schäumend vor Wut wies Alissa mit einer zornigen Geste auf das dampfende Wasser. »Diese Schüssel ist gar nichts!«, brüllte sie. »Sie taugt nicht einmal für den Tisch. Das ist nicht einmal eine Schüssel. Es ist ein Mörser für die Küchenarbeit!«
Strell wich langsam vom Feuer zurück.
»Ich war gewillt, deine Gesellschaft zu ertragen, da du mich immerhin aus dieser Schlucht geholt hast, aber deine Beleidigungen waren nun wirklich zu viel. Ich bin ein schwarzes Schaf , ja? Ein Hochland-Aussiedler ? Verschwinde aus meinem Lager!«
Zu verblüfft, um sich zu bewegen, beobachtete Strell, wie Alissas Blick sich plötzlich hoch über seinen Kopf richtete. Er spürte einen Stich im Nacken, und ihr Gesichtsausdruck wechselte erst von Wut zu Bestürzung und zeigte dann echtes Entsetzen. »Kralle! Nein!«, rief sie und versuchte aufzustehen, verhedderte sich aber in der Decke. Mit einem leisen Aufschrei fiel sie wieder hin, beinahe mitten ins Feuer.
Strell sprang instinktiv hoch, um sie aufzufangen, wich aber zurück, als er plötzlich einen heftigen Schmerz im Nacken fühlte.
»Bei den Hunden«, sagte er, plötzlich attackiert von irgendetwas, das gefiedert, messerscharf und entschlossener war als ein Bettler vor dem Zelt eines reichen Mannes.
Alissa schrie schon wieder, aber diesmal schrie sie nicht ihn an, wofür er eigenartig dankbar war. Er konnte nicht recht verstehen, was sie sagte, denn er drückte den Kopf zwischen die Knie und schützte ihn mit seinen Armen. Winzige Krallen und ein furchtbar spitzer Schnabel kratzten und hieben nach ihm und rissen an seinem Mantel. Etwas schlug gegen seinen Rücken. »Kralle!«, hörte er Alissa kreischen. »Hör auf. Hör sofort auf damit!«
Die Attacke hörte tatsächlich auf, und Strell hob vorsichtig den Kopf. Alissa saß am Feuer, die Decke wieder um sich gewickelt. Sie redete gurrend, fast zärtlich auf einen Vogel ein, der mit gesträubtem Gefieder auf ihrem Knie saß. Als Strell sich bewegte, breitete der Vogel die Flügel aus und schimpfte. »Psst«, flüsterte Alissa dem kleinen Falken zu, streichelte und liebkoste das aufgeregte Tier und versuchte, es zu beruhigen.
Ein Stein piekste Strell, und er rutschte beiseite. Der Vogel riss den Kopf zu ihm herum und zischte.
Immer noch in dem sanften Singsang sagte Alissa zu ihm: »Ich an deiner Stelle würde mich erst mal nicht bewegen.« Dabei wandte sie den Blick nicht von dem Vogel ab.
Strell erstarrte, und eine Zeitlang durchbrachen nur das Knacken des Feuers und Alissas Gurren die Stille. Dieses winzige Ding hatte ihn angegriffen?, dachte er. Es war kaum so groß wie eine Amsel.
Er hatte schon früher zahme Raubvögel gesehen und bewunderte sie sehr. Die meisten hatten eine Haube und Lederriemen an den Füßen getragen, so dass ihre Besitzer sie vollkommen im Griff hatten. Von so etwas angegriffen zu werden war mehr als ärgerlich, es war demütigend. Wieder rutschte er ein Stück zur Seite, und der Vogel warf ihm einen finsteren Blick zu, doch wenigstens hatte er jetzt das Steinchen entfernt,
Die junge Frau beendete ihr Gemurmel und setzte den Vogel auf den Haufen Feuerholz. »Geht es dir gut?«, fragte sie tonlos und ohne den Hauch eines Lächelns.
Strell klopfte verärgert seinen Mantel aus. »Prächtig, ganz prächtig«, erwiderte er sarkastisch.
Der Vogel und Strell beäugten einander misstrauisch, während er langsam seinen Hut abnahm. Ein leiser Laut des Abscheus entfuhr ihm. Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Die Krempe war hinten völlig zerfetzt. Aufgebracht warf er ihn auf den Boden. Der Vogel keckerte, blieb aber sitzen. »Wenn du einen Falken nicht im Zaum halten kannst«, erklärte er barsch, »solltest du keinen besitzen.« Wo, dachte er, sollte er nun einen neuen Hut herbekommen? Seiner war nicht mehr zu gebrauchen.
Alissa betrachtete schweigend den Haufen zerfetztes Leder. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, räusperte sie sich und sagte mit bebender Stimme: »Das tut mir leid. Du
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