Alissa 1 - Die erste Wahrheit
ihren dampfenden Becher, und es duftete köstlich. Sie blickte versonnen ins Feuer, hielt ihren Knöchel mit der einen und den Becher mit der anderen Hand und trank mit langsamen Schlucken. »Ich habe es ernst gemeint, als ich vorhin sagte, ich würde deinen Mantel flicken«, erklärte sie in das lange Schweigen hinein. Ihre Stimme klang kalt und gefühllos.
»Hm«, brummte Strell und kaute auf seinem Dörrfleisch herum. Es war zäh und sehnig, doch er hatte nicht die Absicht, den guten Käse und das Obst hervorzuholen.
»Wenn du ihn mir gibst, mache ich es gleich jetzt«, sagte sie mit scheinbarer Gleichgültigkeit.
Strell zog wortlos seine Flöte aus der Tasche und reichte ihr steif seinen Mantel; in der plötzlichen Kälte spannte sich sein ganzer Körper an.
Der Abend verging nur sehr langsam. Alissa hielt sich tief über ihre Näharbeit gebeugt, und er beschäftigte sich damit, sich einen Schlafplatz freizuräumen. Jedes Mal, wenn er dachte, er hätte alle Steinchen erwischt, tauchte irgendwo ein neues auf und piekste ihn. Schließlich musste er einsehen, dass er sich zwischen so vielen Steinen und mit seiner kratzigen Matte nie ein bequemes Lager schaffen konnte. Er gab es auf, starrte in den Sternenhimmel und beobachtete sie heimlich aus den Augenwinkeln. Er erwartete nicht, dass sie ihre Sache sonderlich gut machte – immerhin war sie nur eine Bauerntochter und besaß somit kaum genug Geschick, um sich die Stiefel zuzuschnüren, aber alles wäre besser als dieser klaffende Riss. Das Fett, das er für seine Stiefel dabeihatte, würde die Kratzer unsichtbar machen, doch sein prachtvoller neuer Mantel würde nie wieder so schön sein wie zuvor.
Die Glut fiel zusammen und ließ Funken hochstieben, die plötzlich im Dunkeln verschwanden. Alissa ignorierte ihn stur. Eingelullt vom stetigen, fließenden Rhythmus ihrer Nadel, schlief Strell ein. Sein letzter Gedanke war der, wie tröstlich es doch war, das Feuer mit einem anderen Menschen zu teilen, ganz gleich, wie grob, nervtötend und gedankenlos diese Person auch sein mochte.
– 8 –
M eson wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte den Beitel an. Drei feste, gezielte Schläge, und der Umriss eines Efeublatts nahm auf dem Wanderstab Gestalt an. Letzten Herbst hatte er Rema dabei ertappt, wie sie auf dem Markt seufzend vor einem Satz Schüsseln gestanden hatte. Sie waren Hirdun-Arbeit; viel zu teuer. Er hoffte, dass er den geizigen Tiefländer mit einem prächtig geschnitzten Stück Holz dazu würde bewegen können, sich zumindest von einer solchen Schüssel zu trennen. Es sollte eine Überraschung werden. Rema versicherte ihm immer wieder, dass sie mit dem Leben zufrieden war, das er ihr hier im Vorgebirge bieten konnte, doch das beruhigte ihn nicht. Sie war so viel mehr gewohnt.
»Papa!«
»Einen Augenblick, mein Schatz«, murmelte er, den Griff des zweiten, feineren Beitels zwischen den Zähnen.
»Papa!«, erklang die Stimme wieder, drängend und irgendwie gedämpft.
»Alissa?« Meson blickte zu den Kiefern hinüber, wo sie eben noch aus Birkenkätzchen und Matsch Kuchen gebacken hatte. Der Hain war leer.
»Hilf mir, Papa! Ich rutsche ab!«
Rutschen?, dachte er, und sein Blick schoss hinüber zum Brunnen. »Bei den Wölfen!«, fluchte er, und sein Beitel fiel vergessen zu Boden. Die drei Herzschläge, die es dauerte, sie zu erreichen, kamen ihm vor wie eine Ewigkeit. Meson sprang zum Brunnen, packte seine Tochter am Rücken ihres Kleidchens und zog sie heraus.
Mit hämmerndem Herzen drückte er sie an sich und verfluchte sich dafür, dass er nicht besser auf sie aufgepasst hatte. Dann hielt er sie auf Armeslänge von sich. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dich von dem Brunnen fernhalten sollst!«
Hellblaue Augen füllten sich mit Tränen, und ihr Kinn begann zu zittern. »Es tut mir leid, Papa. Aber –«
»Nein.« Er schüttelte sie sanft. »Das ist gefährlich. Du hättest dir den Hals brechen können!«
»Aber, Papa –«
»Nein.« Meson runzelte die Stirn, und Alissa verwandelte sich in ein Häuflein Elend.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie, und sein Herz schmolz dahin.
»Komm her, Lissy«, sagte er sanft, und sie warf sich an seine Brust und weinte, weil sie ihn verärgert hatte. »Ruhig«, sagte er und atmete den warmen Duft ihres Haares ein, das nach Wiese und Sonne roch. »Es ist nicht deine Schuld. Ich verspreche deiner Mutter seit fünf Jahren, dass ich eine Mauer um den Schacht ziehen werde. Ich
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