Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Bach. Er riss ihn heraus und bückte sich, um nach seinen Stiefeln zu sehen. Sie waren gut geölt und neu besohlt, doch Nähte konnten reißen, Knoten durchscheuern. Seine Zehen blieben jedoch trocken, und er stieß erleichtert den Atem aus. Er wanderte nie in nassen Stiefeln. Man bekam allzu leicht Blasen an den Füßen, und dann musste man umso länger rasten, bis die schmerzenden Stellen verheilt waren.
Verlegen warf er dem Mädchen einen Blick zu und betrachtete dann die Felswand. Sie war zwar steil, sollte aber nicht allzu schwer zu erklettern sein. Er entdeckte im Licht der Sterne ein paar gute Haltepunkte und nickte energisch.
Das Mädchen saß mit dem Rücken an einen glatt geschliffenen Felsbrocken gelehnt, die Knie unters Kinn gezogen, einen vollen Wasserschlauch neben sich. Es war offensichtlich, was hier geschehen war, dachte er. Sie war heruntergerutscht, um Wasser zu holen, und kam nun mit der schweren Last nicht wieder nach oben.
»Kann ich das für dich raufbringen?«, fragte Strell, der die Tatsache wiedergutmachen wollte, dass er sie beinahe unter einer Gerölllawine begraben hätte.
»Das wäre nett«, sagte sie knapp und reichte ihm den Wasserschlauch.
Er hängte ihn sich über die Schulter, zog sich an seinem ersten Haltepunkt hoch und hielt dann inne. Verwundert blickte er auf das Mädchen hinab. Die Kleine hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Kommst du nicht mit?«
»Ich kann nicht aufstehen«, flüsterte sie und hielt den Blick auf den Bach gerichtet. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich schon den ganzen Tag hier unten sitze.« Ihre Stimme wurde scharf. »Meinst du nicht, dass ich schon längst hier herausgeklettert wäre, wenn ich könnte?«
Strell starrte sie an. Er hätte erwartet, dass jemand, der in einer Schlucht feststeckte, einen etwas gewinnenderen Tonfall anschlug.
Als sie sein Gesicht sah, senkte das Mädchen den Blick. »Entschuldigung«, sagte sie leise. »Aber ich bin halb verhungert und erfroren, und mein Fuß tut weh. Ich glaube, ich habe mir« – sie zögerte kurz – »vielleicht den Knöchel gebrochen«, fuhr sie dann mit zitternder Stimme fort. »Jedenfalls tut er noch immer ziemlich weh.«
Sogleich entspannte sich Strell. Sie hatte Angst. Seine jüngste Schwester war genauso gewesen. Je mehr Angst sie gehabt hatte, desto schnippischer war sie geworden. Er senkte den Blick und stellte überrascht fest, dass seine Trauer von Mitgefühl verdrängt wurde. Vielleicht sollten sie noch einmal von vorn anfangen.
Strell stieg den Hang hinunter und legte den Wasserschlauch beiseite. Er nahm seinen Hut ab und hockte sich hin, so dass er ihr auf gleicher Höhe ins Gesicht sehen konnte. »Mein Name ist Strell«, sagte er förmlich und bot ihr die Hand, mit der Handfläche nach oben, die traditionelle Begrüßung in jeder Situation, ganz gleich wie ungewöhnlich. »Kann ich behilflich sein?«, fragte er und wies mit einem Nicken auf den Hang.
»Alissa Meson«, sagte die junge Frau und berührte kaum einen Moment lang seine Hand. Ihre war so kalt, dass seine Finger kribbelten.
»Meson?«, wiederholte Strell argwöhnisch. Das klang nach einem Bauernnamen. Er kniff die Augen zusammen, beugte sich vor und musterte den kleinen, pelzigen Schatten neben ihr auf dem Felsen. »Was ist das ?«, fragte er.
Alissa warf einen Blick darauf. »Eine Wühlmaus. Wieso? Willst du sie haben?«
Strell runzelte die Stirn. »Sie ist tot.«
»Das möchte ich hoffen.«
Er wartete auf eine Erklärung, doch es kam keine, und das Ganze war einfach zu merkwürdig, um sich auf dem Grund einer Schlucht eingehender darüber zu unterhalten.
»Ich wäre dir dankbar«, sagte sie leise und förmlich, »wenn du mir hier heraushelfen könntest.« Sie lächelte mit offensichtlich erzwungener Höflichkeit. »Offenbar schaffe ich es nicht aus eigener Kraft.«
»Lass mich mal deinen Fuß sehen.« Strell streckte die Hand aus und erstarrte, als sie sich warnend räusperte. Verlegen zog er die Hand zurück. Den Fuß einer Frau zu berühren war eine delikate Angelegenheit, sogar dann, wenn er in einem Stiefel steckte. »Darf ich ihn mir anschauen?«, fragte er höflich.
»Natürlich«, entgegnete sie. »Es ist der andere Fuß.«
Er blickte hinab. Der fragliche Fuß war unter ihrem Mantel verborgen. Sie hatte den Stiefel ausgezogen, und er spürte, wie er errötete, bevor er erkannte, dass sie Strümpfe trug. Ein Teil von ihm entspannte sich erleichtert. Sie kam doch aus dem Tiefland. Nur Bauern waren so
Weitere Kostenlose Bücher