Alissa 1 - Die erste Wahrheit
unbekümmertes Strahlen an einem Frühjahrsmorgen, ihr dunkles Flüstern im Zwielicht, ihr wissendes Lächeln, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, und dann an seine Tochter, die aus einem solchen Lächeln hervorgegangen war. Seine Tochter, die ihm sein Mittagsbrot zu spät und halb aufgegessen brachte in dem Wissen, dass er Verständnis für den langen Weg haben und ihr verzeihen würde. Die so oft in seinen Armen einschlief, in der spätsommerlichen Dämmerung von den murmelnden Stimmen ihrer Eltern eingelullt. Die ihm verletzte Grillen und Mäuse zur Begutachtung und Behandlung brachte, in der Gewissheit, dass er alles konnte, einfach alles, weil er ihr Papa war.
All diese Dinge holte er nah zu sich heran, er hüllte sich in diese Gedanken wie in einen Gnadenmantel, und als sie ihm beide so nah waren, dass er fast den Duft sommerlicher Wiesen in ihrem Haar riechen konnte, sah er Bailic an und ließ ihn mit dem verzauberten Ausdruck in seinen Augen zu verblüffter Reglosigkeit erstarren.
Mit klarer, fester Stimme sprach Meson ein einziges Wort: »Nein.«
Ein Bersten und Krachen war zu hören, bei dem einem das Herz stehen bleiben mochte. Mit einem grauenhaften Beben sprengte der Balkon sich von der Mauer ab, in dem vergeblichen Versuch, Mesons schlichte Weigerung zu verschlucken. Doch es war zu spät. Das Wort war ausgesprochen. Der Wahrheitsbann war zerschmettert, überwältigt von einer Macht, noch stärker als die Wahrheit.
»Halt!«, hörte er Bailic schreien. Er stürzte zum Balkon und versuchte vergeblich, Meson aufzufangen. Das Letzte, was Meson sah, war Bailic, doch sein letzter Gedanke galt seiner Alissa. Sein Kind hatte nun eine Chance, und manchmal war eine Chance das Beste, was ein Vater geben konnte.
Du hast dich geirrt, Talo-Toecan, dachte er, als der Augenblick, ehe er auf dem Boden aufschlug, sich ewig auszudehnen schien. Es gibt eine Kraft, die machtvoller ist als jene, die der Geist wirkt – die Kraft des Herzens.
– 11 –
S trell beobachtete erstaunt, wie Alissa aschfahl wurde, zweimal blinzelte und dann da, wo sie gerade saß, zusammenbrach. Verblüfft starrte er sie an. »Alissa?«, fragte er und beugte sich vor, um sie an der Schulter zu rütteln.
Ein plötzlicher Ansturm von Klauen- und Schnabelhieben drängte ihn zurück.
»He!«, schrie er. »Dämlicher Vogel. Was bei den Wölfen hast du denn jetzt?«
Kralle fauchte wie eine zornige Katze und landete neben der ausgestreckten Hand ihrer Herrin. Strell lehnte sich zurück, und die warnenden Laute des Vogels wichen besorgtem Gezeter. »Ich wollte doch nur nachsehen, was ihr fehlt«, brummte er. Langsam reckte er sich wieder Alissa entgegen und ließ den Vogel nicht aus den Augen.
Kralle gab unheimliche, klagende Laute von sich, und er wich erneut zurück. Er hatte gespürt, was ihr kleiner Schnabel und die scharfen Krallen anrichten konnten, und er hatte nicht die Absicht, diese Erfahrung zu wiederholen, schon gar nicht, solange Alissa den Vogel nicht zurückhalten konnte. Er ließ sich auf die Fersen sinken und schnitt dem winzigen Raubvogel eine Grimasse, weil er ungern zugab, dass er sich vor einem so kleinen Tier fürchtete.
Alissa machte nicht den Eindruck, als schwebe sie in unmittelbarer Gefahr: Sie atmete, ihre Haut hatte wieder eine normale Farbe angenommen, sie zuckte nicht und hatte keine Anzeichen von Schmerz gezeigt, bevor sie in Ohnmacht gefallen war. Und es lag bestimmt nicht an irgendetwas, das er in ihren Abendeintopf gegeben hatte. Er war damit groß geworden, die Wüste nach Essbarem abzusuchen. In diesem üppig grünen Tal etwas zu finden war ihm nach den vielen Jahren des Reisens zur zweiten Natur geworden. Die Leute aus dem Hügelland waren verschwenderisch – sie aßen nicht einmal ein Drittel von dem, was vorhanden war. Sie hatte das Abendessen kaum angerührt, wählerisch, wie sie als verwöhnte Hochländerin eben war. Vermutlich war sie vor Erschöpfung zusammengebrochen. Sie hatte hier draußen nichts verloren.
Aber er konnte sie nicht einfach so daliegen lassen.
Strells Blick huschte von dem Mädchen zum dunklen Himmel. Alissa sollte besser nichts Ernsthaftes haben. Er hatte nicht die Absicht, sie hier herumzutragen, obwohl er vielleicht schneller vorankäme, wenn sie bewusstlos war, da er sich dann nicht ständig ihr Geschwätz anhören müsste. Es war ein Wunder, dass ihr überhaupt noch Luft zum Laufen blieb. Ihr Mundwerk schien niemals stillzustehen.
Er blinzelte, als ihm plötzlich
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