Alissa 1 - Die erste Wahrheit
härterem Holz geschnitzt«, bemerkte sie leise. »Finde endlich den Wind unter deinen Flügeln. Ich habe dir einen Namen genannt, mit dem du mich ansprechen kannst.«
Strell hob frustriert die Hände gen Himmel. »Das glaube ich einfach nicht. Die kleine Dreckscharrerin hat einen Sonnenstich!«
Zorn flammte einen Moment lang in Alissas Gesichtszügen auf, dann beschloss sie wohl, seinen Ausbruch zu ignorieren, denn sie fragte ruhig: »Hast du ein Stück Spiegelglas bei dir? Ich habe Alissa seit ihrem zweiten Sommer nicht mehr gesehen.«
»Womit habe ich das verdient?«, schrie Strell den Himmel an. »Warum muss ich schon mitten in den Bergen sein, bevor ich herausfinde, dass sie verrückt ist? Ich hätte wissen sollen, dass mit ihr etwas nicht stimmt, als dieser dumme Vogel« – er schüttelte Kralle auf seiner Hand, damit sie aufhörte, so einen Lärm zu machen – »mich angegriffen hat.«
»Du hast keinen Spiegel?« Alissa seufzte dramatisch. »Ein Jammer. Sind ihre Augen blau geblieben?« Missbilligend ließ sie den Blick an sich hinab über ihre Aufmachung schweifen. »Oder sind sie zu diesem absurden Farbton nachgedunkelt wie bei ihrem Vater?«
Alissas Worte drangen endlich zu Strell durch, und er schloss mit einem vernehmlichen Keuchen den Mund. Nicht einmal in ihren Träumen würde Alissa sich als nutzlos bezeichnen, und ganz gewiss würde sie nicht still sitzen bleiben, während er sie lauthals beleidigte. Außerdem hätte Kralle ihr offenbar liebend gern die Augen ausgehackt. Wer auch immer das war, der da gerade stirnrunzelnd das Büschel roter Haare im Band seines alten Hutes musterte – es war nicht Alissa.
Langsam wich er zurück und ignorierte weiterhin Kralles gewaltsame Versuche, sich zu befreien und ihre Herrin anzugreifen. Er hatte Geschichten von Besessenheit immer als frei erfunden abgetan, doch heute Abend hätte er nicht mehr darauf gewettet. »Nutzlos soll ich dich nennen?«, flüsterte er, und Alissa neigte mit belustigtem Blick den Kopf. Die Geste wirkte sehr maskulin, und Strell schluckte schwer. »Im Sonnenlicht wirken ihre Augen grau«, sagte er. »Wo ist Alissa?«
»Verbrannt will ich sein, das hatte ich befürchtet.« Nutzlos seufzte. »Nun, wie dem auch sei. Er wird sie nicht zu sehen bekommen. Sie muss umkehren und nach Hause gehen.«
»Wo ist Alissa?«, verlangte Strell zu wissen und weigerte sich, seiner aufsteigenden Panik nachzugeben.
Nutzlos griff nach einem Stock, schürte das Feuer und brachte dabei Alissas Fingerspitzen gefährlich dicht an die Flammen heran. Er schnappte nach Luft, riss Alissas Hand zurück und blickte drein, als fühle er sich betrogen. »Wie ich bereits sagte«, nuschelte er um die Finger herum, die er in ihren Mund gesteckt hatte, »ist sie derzeit anderweitig in Anspruch genommen.«
»In Anspruch genommen? Heißt das nun beschäftigt oder von jemand anderem besessen?«, fragte Strell verwirrt.
»Ganz richtig«, sagte Nutzlos und betrachtete die kleine Brandwunde mit offensichtlichem Ekel.
Kralle zischte wie ein Teekessel und zwickte ihn heftig. Strell überlegte, ob er einfach eine Decke über den Vogel werfen sollte, und schrie: »Na, was denn nun?«
Nutzlos sah ihn mit schmalen Augen an. »Maße dir nur nicht zu viel an, werter Spielmann. Ich könnte dich ebenso leicht zu Asche verbrennen wie diesen Vogel.«
Strell zwang sich, seine Faust ein wenig zu öffnen. Kralles Gekreische schwächte sich zu einem Knurren ab, von dem man Gänsehaut bekommen konnte – offenbar ließ sie sich von Strells weniger aggressiver Haltung beeinflussen.
»Ach, sei doch nicht albern«, sagte Nutzlos und betrachtete stirnrunzelnd das Loch in Alissas Strumpf. »Ich würde dich nicht verbrennen. Es ist ein Wunder, dass ich euch überhaupt finden konnte. Sei also versichert, Wiederbringer verwahrloster Weisen, dass nur dann, wenn Alissas Gedanken in der Vergangenheit weilen, nutzlose Gedanken eindringen können.«
Strell verzog das Gesicht. »Meint Ihr nutzlose Gedanken im Sinne von unbedeutend oder Eure Gedanken?«
»Schon wieder richtig.« Nutzlos verzog Alissas Gesicht zu einem ironischen Lächeln. »Alissa wird erwachen, wenn die Sonne aufgeht. Ich wollte mich nur vergewissern, dass sie in Sicherheit ist, solange sie auf den Linien reist. Ich gestehe, ich bin erfreut, dass sie noch jemanden gefunden hat, der ein wenig auf sie achtgibt, abgesehen von diesem übellaunigen Spatz. Ich hätte ja gar nichts gesagt, doch deine alte Weise vermochte schon immer
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