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Alissa 1 - Die erste Wahrheit

Alissa 1 - Die erste Wahrheit

Titel: Alissa 1 - Die erste Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dawn Cook
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heute Abend war er neugierig, wie weit seine immer noch empfindliche Hand sich strecken ließ, und er wollte die Flöte noch nicht weglegen. »Wie wäre es mit der Melodie, die deine Herrin mich über das weite Tal hinweg unter den Flügeln des Rakus gelehrt hat?«, schlug er vor und freute sich über Kralle, die ruckartig mit dem Kopf nickte, als hätte sie ihn verstanden. Vorsichtig, um die Grenzen seiner Hand zu ertasten, probierte Strell die Melodie, an die er sich nun viel besser erinnerte, weil er Zeit gehabt hatte, sie sich durch den Kopf gehen zu lassen.
    Sacht zunächst, dann noch sachter, blies Strell in den aufsteigenden Nebel. Sein Atem war die Vorhut seiner wanderlustigen Seele, die er mit seiner Musik ausschickte, und schien in den Nebel überzugehen, sobald er den Lichtkreis des Feuers verließ. In ihm regte sich eine gedämpfte Rastlosigkeit, der Drang, aufzustehen und zu gehen. In der Melodie schwebte auch ein stilles Hinnehmen von Verlust, ein beunruhigendes Bedürfnis nach etwas Unbekanntem. Er würde vorsichtig sein müssen, wenn er sie bei einem Auftritt spielte, denn sonst könnte er sein Publikum verlieren. Diese Melodie weckte in ihm den Wunsch, auf Wanderschaft zu gehen, sich auf die Suche zu machen. Sie war aufwühlend. Strell gefiel sie sehr.
    Er begann die Melodie leicht zu verändern, einzelne Noten zu wandeln, bis er etwas noch Besseres gefunden hatte. Das Ergebnis dieser Spielerei machte ihm große Freude. Das Lied hatte schon seltsam begonnen, doch nun war es geradezu unheimlich. Unsicher tastete er sich zu immer tieferen Tönen vor, baute unerwartete Rhythmuswechsel ein und löschte so alles aus der ursprünglichen Melodie außer der verzweifelten Sehnsucht, zu erfüllen und zu werden. Er erschauerte, denn zum ersten Mal seit Monaten war ihm kalt.
    Strell erreichte das Ende und begann ein drittes Mal. Er hatte das Stück einmal gespielt, um es zu lernen, einmal, um es zu verändern, und nun wollte er es für sich selbst spielen. Wie gebannt von der Musik, bemerkte er kaum, dass Kralle plötzlich wachsam und angespannt war und die Grillen ihren unablässigen Chorgesang eingestellt hatten. Er ließ den letzten, sehnsüchtigen Ton erklingen, setzte das Instrument dann ab, rieb sich die Handfläche und seufzte. Das war eine sehr befriedigende Übung gewesen, die er nur ungern beendete.
    »Das war schon sehr nah am Original, Pfeifer. Offenbar hast du eine Begabung dafür, eine Melodie zu ihrem Ursprung zurückzuführen«, erklang Alissas Stimme, die sich eigenartig kraftvoll und kultiviert anhörte.
    Die Flöte entglitt Strells Fingern, und er richtete sich auf. Er hatte ganz vergessen, dass sie da war. »Alissa?«, hauchte er, denn ihr Akzent klang seltsam, sogar wenn man ihre sonstige Aussprache bedachte. Kralle begann zu zischen.
    »Nein«, seufzte sie, richtete sich auf und blinzelte ihn an wie eine Eule. »Alissa ist anderweitig in Anspruch genommen.«
    Strell ließ sich schwer auf seine Matte fallen. Alissa sah entschieden merkwürdig aus. Ihre Brauen waren gerunzelt, ihr Kiefer wirkte ungewöhnlich angespannt. Alissa war zwar niemals plump, doch nun bewegte sie sich mit einer fließenden, beherrschten Anmut, die er noch nie bei ihr gesehen hatte.
    »Halte diesen Vogel zurück, bevor er sich verletzt«, sagte Alissa, und die Decke fiel von ihren Schultern, als sie sich im Schneidersitz kerzengerade aufrichtete.
    Gedankenlos griff Strell nach dem Falken und fing sich dafür einen weiteren Kratzer an der Hand ein. Hastig umwickelte er sie mit dem Tuch, packte Kralle an den Füßen und wünschte, sie trüge ein Geschüh. Kralle ruckte wild mit dem Kopf hin und her, fauchte und merkte gar nichts von ihrem neuen Sitzplatz.
    »A-Alissa?«, stammelte er. »Du bist in Ohnmacht gefallen. Geht es dir gut?«
    Sie räusperte sich, und Strell erschrak über diesen unfeinen Laut. »Ich sagte dir doch bereits, dass ich nicht Alissa bin. Aber da ich derzeit ausgesprochen nutzlos bin, darfst du mich so nennen.«
    »Da sollen mich doch die Wölfe holen«, flüsterte Strell, der plötzlich begriff. »Sie hat einen Sonnenstich.«
    Alissas Augen wurden schmal. »Alissa ist nicht verrückt. Verlass dich darauf – immer«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf ihn. Dann hob sie die Hand dicht vor ihre Nase und betrachtete ihre Finger, während sie langsam die Hand zur Faust ballte und wieder öffnete, anscheinend fasziniert von dieser einfachen Handlung. »Ich dachte allerdings, Tiefländer wären aus

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