Alissa 1 - Die erste Wahrheit
konzentrierte sich auf das Ein und Aus seines rasselnden Atems. Langsam blickte er auf und sah Bailic am Rand des Schattens vor dem Balkon stehen; er wollte sich wohl nicht die Haut verbrennen und wusste, dass er seine Antwort bekommen würde, ob er Meson bewusstlos oder zu Brei schlug oder auch nicht. Meson wurde schwarz vor Augen, doch sein Blick klärte sich wieder, als er sich erst auf alle viere aufrappelte und dann unsicher aufstand.
»Du hast mich dazu getrieben, dass mein Temperament mit mir durchging«, erklärte Bailic steif und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Kehle. »Das hätte nicht geschehen dürfen.«
»Nein?«, japste Meson. »Offenbar haben wir beide e i nen schlechten Tag.«
Bailic wandte sich halb ab, als wollte er gehen, und wirbelte dann mit irrem Blick wieder herum. Meson schnappte nach Luft, als Bailics Feld sich um ihn bildete, doch er war hilflos, seine Pfade zu Asche verbrannt. Er erstarrte und schrie auf, als der Schmerz plötzlich nachließ. Das war ein Bann der Verschiebung, der seinen Geist daran hinderte, die Schmerzen des Körpers wahrzunehmen.
Als Meson sich aus seiner gekrümmten Haltung aufrichtete, lächelte Bailic herablassend. Er hatte das nicht aus Mitgefühl getan, sondern weil der Schmerz Meson nicht am Reden hindern sollte. Bailic kontrollierte seinen Körper, aber nicht seine Seele. Er hatte eine Wahl – man hatte immer eine Wahl; sie gefiel ihm nur nicht.
Meson drehte sich um und versuchte, seine Atmung flach zu halten, als er spürte, wie seine Rippen knirschten. Mit einem scheußlichen Gefühl in der Magengegend warf er einen Blick über die Brüstung, an der er sich krampfhaft und mit weißen Fingerknöcheln festklammerte. Die Mauer fiel unter ihm acht Stockwerke tief ab, eine nackte Wand aus Stein. Aber er konnte nicht springen. Wenn er sprang, hatte er keine Chance, Bailic mit in den Tod zu reißen.
»Nun komm, Meson«, lockte Bailic vom Rand der Schatten aus. »Ich habe deine Gedanken bis in jeden Winkel der Feste und der Ländereien verfolgt. Es ist hier irgendwo. Du wirst mir sagen, wo.«
Dass Bailic seinen Namen aussprach, bewirkte unter dem Wahrheitsbann einen starken Zwang, und Meson schwitzte bald von der Anstrengung, sich dagegen zu wehren. Ungesehen stieg die Macht der Feste auf, dicht und klebrig, mit dem Duft von Eis und Schnee. Dem Duft der Wahrheit und des Todes.
»Meson«, sagte Bailic schroff, als er ihn über die Brüstung spähen sah. »Sei kein Narr. Der Sturz wird dich mit noch größerer Sicherheit töten, als ich es vielleicht tun werde. Wo«, donnerte er, »ist die Erste Wahrheit !«
Mesons Gedanken wirbelten durcheinander, schwarz und kalt. Nichts konnte Alissa davon abhalten, hierherzukommen. Aber vielleicht konnte er ihr wenigstens eine faire Chance verschaffen. Er musste daran glauben, dass sie überleben konnte, wenn sie nur eine Chance bekam, und die zumindest sollte er ihr noch geben. Sie würde das Buch dort finden, wo er es versteckt hatte – er wäre jetzt nicht hier, wenn sie das nicht könnte. Doch um ihr diese Chance zu verschaffen, musste er die Kraft aufbringen, das Unmögliche zu tun. Er musste den Wahrheitsbann der Meister brechen.
Der Versuch würde sämtliche Schutzvorrichtungen der Feste auslösen und ihn das Leben kosten, doch er war bereits so gut wie tot. Er konnte nicht zulassen, dass Bailic Alissa in die Falle lockte, so wie ihn selbst. Auch Meson konnte die Banne der Festung zu seinem Vorteil nutzen. Doch wo sollte er die Kraft finden, etwas zu brechen, das ein Meister erschaffen hatte?
Er würde sie finden müssen, entschied er. Um der Liebe zu seinem Kind willen. Und in diesem Augenblick wusste er es. Hier, am Ende von allem, erkannte er die einzige Macht, die stärker war als jeder Bann, stärker als jeder Meister. Und Bailic besaß nichts davon, nicht einmal für sich selbst.
Bailic belauerte ihn, verhöhnte ihn mit seinem Gelächter, vollkommen siegessicher.
Mit einem gedämpften Stöhnen packte Meson die Brüstung und blickte hinab. Eine einzelne Träne fiel, und er sah ihr nach, bis sie verschwunden war. »Oh, Alissa«, flüsterte er. »Es tut mir schrecklich leid. Rema, du verdienst so viel mehr.« Zitternd drehte er sich um. Bailics Lachen brach abrupt ab, als er Mesons weichen Gesichtsausdruck sah – einen Ausdruck, den Bailic nur mit Verrat in Verbindung bringen konnte.
Meson stand auf dem Balkon, in die warme Sonne seiner Berge getaucht, und dachte an seine Frau: ihr
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