Alissa 1 - Die erste Wahrheit
auffiel, dass Kralle auf einer imaginären Linie zwischen ihm und Alissa auf und ab patrouillierte. »Jetzt hör doch, Vogel«, sagte er mit einer Selbstsicherheit, die er nicht fühlte. »Ich will nur nachsehen, ob ihr etwas fehlt.« Trotz des seltsamen, wenig vogelartig klingenden Knurrens, das der Falke von sich gab, streckte Strell die Hand aus. Wieder wurde er mit wirbelndem Flügelschlag belohnt. Mit finsterem Blick steckte er sich einen Fingerknöchel in den Mund. Er pochte schmerzhaft, und Strell war nicht überrascht, als er feststellte, dass er einen kleinen, blutenden Kratzer aufwies. Offenbar musste er sich erst den Vogel gewogen machen, ehe er Alissa anrühren konnte.
Er hockte sich wieder auf die Fersen, dachte kurz nach und drehte sich dann mit einem leisen Brummen nach dem Dörrfleisch in seinem Bündel um. Er hatte in der Vergangenheit schon öfter Freundschaft mit aggressiven Hunden geschlossen. Einen lächerlich kleinen Vogel zu besänftigen konnte kaum schwieriger sein. »Kralle«, sagte er in sanftem Singsang, wie er es bei Alissa beobachtet hatte, und errötete dabei vor Verlegenheit. »Nimm ein Stück Fleisch. Ich werde ohnehin nicht mehr viel davon essen. Alissa zieht so ein schreckliches Gesicht, wenn ich Fleisch esse.« Ungelenk streckte Strell das Stück Dörrfleisch aus, und Kralle legte den Kopf schief. »Beeil dich, Vogel«, flüsterte er und riskierte einen besorgten Blick auf Alissa. »Nimm das Fleisch.«
Der Vogel beäugte ihn, dann das Fleisch. Die Versuchung wurde zu groß, und Kralle reckte vorsichtig den Hals und nahm das Häppchen aus seiner Hand.
»Siehst du.« Strell seufzte erleichtert und blickte erneut zu Alissa. »Das war doch gar nicht so schwer.« Er rückte näher heran und versuchte es noch einmal. Auch dieses Stück Fleisch wurde angenommen, und er machte weiter. Schneller, als er es für möglich gehalten hätte, hatte er einen dicken, zufriedenen Falken auf seiner hastig mit Stoff umwickelten Hand sitzen, der ihn sacht zwickte. Vorsichtig strich Strell mit dem Finger über die Zeichnung des Gefieders, ein wenig ergraut vom Alter, und staunte über das Gefühl, ein solches Stückchen Wind auf seinem Handgelenk sitzen zu haben, auch wenn es nicht ihm gehörte. Dann kicherte er über seinen seltsamen Gedanken. »Ich bin froh, dass ich nicht der Einzige bin, der mit seinem Magen denkt«, murmelte er, setzte den Vogel auf den Stapel Feuerholz und wandte sich Alissa zu.
Er hielt Ausschau nach Anzeichen eines Angriffs von Seiten des Falken, während er es zunächst damit versuchte, Alissa zu schütteln; dann schrie er sie an, alles ohne Erfolg. Erst auf Kralles warnendes Gezeter hin, als er sich anschickte, den Wasserschlauch über Alissa auszugießen, gab er sich geschlagen. Stirnrunzelnd deckte er sie zu und kehrte auf seine Seite des Feuers zurück.
Er setzte sich und stieß dabei verwundert den Atem aus. In seinem Bündel kramte er nach der Flöte seines Großvaters. Er holte sie hervor, wickelte sie aus und zögerte, als er sich an Alissas unausgesprochenen Zweifel erinnerte, nachdem er eingestanden hatte, dass er Kopfschmerzen bekam, wenn er diese Flöte spielte. Das Gefühl, dass sie ihm nicht glaubte, gefiel ihm nicht, und er wickelte die Flöte wieder ein und stopfte sie tief in sein Bündel. Stattdessen holte er sein anderes Instrument heraus und polierte es, während er über das Feuer hinweg zu Alissa hinüberstarrte.
Bei den Wölfen, dachte er. Was sollte er jetzt tun? Was, wenn sie krank war? Andererseits erschien es ihm unwahrscheinlich, dass sie ernsthaft krank sein könnte. Alissa war gesund und kräftig, und er hatte noch nie erlebt, dass jemand sich so erstaunlich schnell erholte wie sie. Ihr Knöchel beispielsweise müsste immer noch viel zu stark geschwollen und empfindlich sein, als dass sie ihn belasten könnte, ganz zu schweigen davon, dass sie schon beinahe mit ihm mithalten konnte. Doch wenn es nur Erschöpfung war, hätte sie irgendwie auf seine Versuche, sie zu wecken, reagieren müssen.
Er war mit dem Polieren fertig und blies in seine Flöte. Der einzelne Ton glitt hinaus in den Abendnebel und beschämte die Grillen und raschelnden Blätter so, dass sie vorübergehend respektvoll schwiegen. Kralle schüttelte ihr Gefieder wie in angenehmer Erwartung. »Das gefällt dir, hm?« Strell beugte sich vor und zerzauste ihre Federn. Widerwillig begann er tatsächlich, das kleine Biest zu mögen.
Strell übte selten ohne zahlendes Publikum, doch
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