Alissa 1 - Die erste Wahrheit
das wilde Herz zu berühren. Merke sie dir gut; es ist lange her, seit diese Melodie zuletzt richtig gespielt wurde.«
»Auf den Linien reist?«, fragte Strell verzweifelt. Er hatte schreckliche Angst davor, dass dieses Gespräch nun zu Ende sein würde, und zugleich davor, dass es sich fortsetzen könnte.
Grimmig, doch nicht ohne Mitgefühl sagte Nutzlos: »Dir das zu erklären würde mehr Zeit in Anspruch nehmen, als wir heute Abend haben. Nur so viel: Sobald Alissa erwacht, wirst du sie nach Hause bringen.«
»Ich bringe sie nicht zurück«, erwiderte Strell. »Ich will nicht im Tiefland überwintern, und die Pässe werden verschneit sein, wenn ich jetzt umkehre.«
Nutzlos starrte ihn mit vernichtendem Blick an. »Das – ist – mir – gleich. Du wirst sie nach Hause bringen.«
Strell runzelte die Stirn. Seine Panik verebbte, zurückgetrieben von hasserfüllter Sturheit gegenüber jemandem, der ihm Vorschriften machen wollte. Er trug einen verbrieften Namen. Er brauchte sich, außer von seinem Vater, von niemandem etwas befehlen zu lassen. Und wenn das diesem Nutzlos nicht gefiel, dann konnte der Kerl nach Sandflöhen scharren.
»Dies ist – äh – kein günstiger Zeitpunkt für mich, um eine Schülerin anzunehmen«, sagte Nutzlos, und leichte Röte zog sich über Alissas Wangen. »Ich habe sie auf den Linien der Zeit zurückgeschickt, wo sie den grauenhaften Tod ihres Vaters miterlebt, der sie abschrecken soll. Offen gestanden überrascht es mich, dass sie sich überhaupt auf den Weg gemacht hat. Die Anziehung müsste eigentlich viel zu schwach sein, da nur ich selbst noch dort bin.«
»Den Tod ihres Vaters?«, flüsterte Strell, dem bei diesem Gedanken eiskalt wurde.
»Ich bedauere die Notwendigkeit so harter Maßnahmen«, erklärte Nutzlos, und Alissas Körper sank zum ersten Mal ein wenig zusammen. »Doch es ist zu ihrem eigenen Besten. Sie darf ihren Weg nicht fortsetzen. Dieses Erlebnis müsste genügen, damit sie umkehrt und sich beeilt, zum Abendessen zu Hause zu sein.«
»Kein günstiger Zeitpunkt, um eine Schülerin anzunehmen …« Strell runzelte die Stirn, dann leuchteten seine Augen auf. »Ihr seid in der Feste.«
»Sie hat dir von der Feste erzählt!«, rief Nutzlos. »Jawohl«, fügte er dann säuerlich hinzu. »Dort bin ich, gefangen gehalten von einem aufrührerischen Bewahrer, der sich für mehr hält, als er ist.«
»Also, genau da wollen wir hin«, sagte Strell vorsichtig. Irgendetwas an Nutzlos’ Worten fühlte sich an wie ein nasskalter Strick, der ihm um den Hals gelegt wurde. »Vielleicht können wir Euch befreien.«
»Nein.« Nutzlos seufzte, und die Fransen in Alissas Stirn tanzten in der ausgestoßenen Atemluft. »Mich zu befreien ist ein edelmütiger Gedanke, doch keiner von euch beiden ist dieser Aufgabe gewachsen. Nicht einmal mein Gefängniswärter könnte mich freilassen – so er es denn wagen würde. Bring sie einfach nach Hause. Sie kann wiederkommen, wenn Bailic nicht mehr von Bedeutung ist. Er wird alt. Ihm können nicht mehr allzu viele Jahre bleiben.« Nutzlos runzelte die Stirn und verzerrte Alissas Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. »Ich darf mir nicht gestatten zu glauben, dass sie alle fort sind. Irgendjemand muss übrig geblieben sein. Jemand, der mich befreien kann. Vielleicht warten sie ebenfalls, bis er sich von selbst erledigt, und betrachten meine Gefangenschaft als gerechte Strafe dafür, dass ich es so weit habe kommen lassen.«
»Bailic?«, fragte Strell und spürte förmlich, wie sich die Schlinge um seinen Hals enger zusammenzog. »Wer ist Bailic?«
Alissa erstarrte, und Strell wich zurück, als eine Woge von Zorn und Hass Alissas Körper erfasste, der mit diesem Ausdruck erschreckend falsch aussah. Sie erschauerte, und Nutzlos fand zu seiner ruhigen Beherrschung zurück.
»Bailic?«, murmelte er. »Er ist derjenige, der mich getäuscht hat. Er ist derjenige, der meine Gefährten im Namen einer bedeutenden Suche in den Tod geschickt hat. Er ist derjenige, der systematisch eine Art Genozid an allen Bewahrern und Schülern verübt hat. Falls er erkennt, wer Alissas Vater ist, wird er auch sie abschlachten. Das würde er schon aus purer Rachsucht tun, ganz abgesehen von seiner Angst vor ihrem möglichen Potenzial als Bewahrerin.« Nutzlos schüttelte Alissas Kopf. »Bei diesem einen ist irgendetwas schiefgegangen. Er hat Angst. Warum hat er solche Angst?«
Strells Atem ging keuchend, und er begann, alles Mögliche in sein Bündel
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