Alissa 1 - Die erste Wahrheit
erschöpft und hungrig, spürte auch die Anstrengung des vergangenen Tages noch in den Knochen. Schwer lehnte sie sich an einen kalten Felsbrocken und wischte sich mit der kalten Hand die kalte Nase. Die Feuchtigkeit war ihr bis durch die Haut gedrungen, so dass ihr alles wehtat und sie sich träge fühlte. »Scheußliches Wetter«, bemerkte sie, um das Schweigen so unverfänglich wie möglich zu brechen.
Strell antwortete nicht. Er hatte den ganzen Tag kaum ein Wort gesagt, und sie hatte seine schlechte Laune allmählich satt. Er nahm ihre Worte nicht einmal zur Kenntnis, sondern studierte weiter mit finsterer Miene die Karte.
»Der Regen kriecht wirklich überall hinein, nicht wahr?«, fragte sie in der Hoffnung auf irgendeine Reaktion.
Versunken in seine Karte, gab Strell nur ein abwesendes »M-m …« von sich.
Alissa verzog das Gesicht, gab es auf und pfiff nach Kralle. Zumindest ihr Vogel würde mit ihr sprechen. Kralles grauer Schatten erschien wie ein Geist aus dem Regen und landete auf ihrem Handgelenk. »Wo hast du den Vormittag verbracht?«, flüsterte Alissa und kraulte den Vögel.
Kralle sträubte das weiche, seidige Gefieder und schnatterte. Alissa atmete tief ein und roch den Duft langer, staubiger Nachmittage im Heu. Sie runzelte die Stirn. »Strell«, sagte sie knapp, »Kralles Gefieder ist trocken.«
Er drehte sich stirnrunzelnd zu ihr um. »Na und?«
»Das kommt mir seltsam vor«, erklärte sie. »Wir sind tropfnass, und Kralle ist so trocken wie ein Sommertag im Tiefland.«
Verblüfft trat er zu ihr, um vorsichtig mit einem Finger über Kralles Federn zu streichen. »Du hast recht«, rief er aus. Seine Brauen, schon den ganzen Tag lang gerunzelt, glätteten sich ein wenig, und der Vogel gab ein kehliges Zwitschern von sich, weil er die viele Aufmerksamkeit sichtlich genoss.
Alissa fing Strells Blick auf und lächelte hoffnungsvoll. »Vielleicht ist ihr trockenes Plätzchen ja groß genug für uns drei. Wie wäre es, Kralle? Zeigst du uns, wo du warst?« Mit der lockeren Anmut langer Übung warf Alissa den Falken in den nassen Nachmittag. Kralle verschwand so rasch, wie sie gekommen war. Strell machte einen Schritt in ihre Richtung, zögerte dann aber, als Alissa sich nicht rührte.
»Nur zu.« Sie bedeutete ihm voranzugehen, weil sie nicht wollte, dass er sie hinken sah. »Mein Schuhband ist locker. Ich komme gleich nach.« Kralles Unterschlupf konnte nicht weit sein; sie war auf Alissas Pfiff hin sehr schnell gekommen. Sie tat so, als schnüre sie ihren Stiefel, und wartete, bis er außer Sicht war, bevor sie ihm unter Schmerzen nachhumpelte.
Als sie um eine nahe Felsnase kam, entdeckte sie die beiden unter einem großen Felsüberhang. Strell trug den Kopf zum ersten Mal an diesem Tag etwas höher. Auf einer Hand hielt er Kralle, die andere hatte er in die Hüfte gestemmt. Er bot ein unerwartet beeindruckendes Bild, und Alissa blinzelte und merkte erst jetzt, wie sehr er sich von den gedrungenen, stämmigen Bauern unterschied, die sie ihr Leben lang möglichst gemieden hatte. Sein Scheitel streifte beinahe die Decke der kleinen, offenen Höhle.
»Sieh dir das an!«, rief er und gestikulierte mit der freien Hand. Unter dem Überhang lag ein überraschend großer Fleck trockenen Bodens. Sie würden nie einen besseren Platz für ihr Nachtlager finden. Da war sogar ein umgestürzter Baum für ihr Feuer, und nur die Hälfte davon lag im Regen. »Lass uns hier essen.«
»Gut«, sagte sie, biss die Zähne zusammen und bemühte sich, beim Gehen nicht vor Schmerz das Gesicht zu verziehen. Strell rückte beiseite, um ihr Platz zu machen, als sie den Felsvorsprung erreichte, und sie ließ dankbar ihr Bündel von den Schultern gleiten. Langsam sank sie auf die Knie, um ihre Füße zu entlasten. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie Blasen an den Fersen bekommen, und sie war so müde, dass sie hätte weinen mögen.
Alissa starrte wie betäubt vor Erschöpfung in den Regen, während Strell Kralle auf den umgestürzten Baum setzte. Wenn es nach Alissa ging, würden sie die Nacht hier verbringen, doch sie wusste, dass Strell dagegen sein würde. Sie hatte es satt, mit ihm zu streiten. Irgendwie bekam sie nie ihren Willen. Es war frustrierend.
Ein zufriedenes Seufzen kam über Strells Lippen, als er sich am Rand des trockenen Fleckchens niederließ. Er nahm seinen Hut ab und schlug ihn gegen die andere Handfläche, um den Regen abzuschütteln.
Vielleicht, dachte sie verdrießlich, würde er bleiben
Weitere Kostenlose Bücher