Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Sprache zu bringen. »Warum haben deine Eltern dir nicht einfach von der Abmachung deines Großvaters mit der Shaduf erzählt?«
Strell seufzte und sah mit zusammengekniffenen Augen zum Himmel. Sein Blick schweifte umher, und sie vermutete, dass er Kralle entdeckt hatte, die auf einem frischen Aufwind segelte und sie lieber allein durch die stickige, reglose Luft hier unten stapfen ließ. »Es ist eine Schande, einem Sohn das Handwerk der Familie zu verweigern, und sei es auf den Rat einer Shaduf hin«, erklärte er ernst. »Ich kann es ihnen nicht verdenken, dass sie mir nichts davon gesagt haben. Ich bin immer davon ausgegangen, dass mein Großvater sich gewünscht hat, ich möge seiner zweiten Liebe folgen, der Musik. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Spielmann geworden bin.« Strells Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an, als er die Kitteltasche berührte, in der er nun die Flöte seines Großvaters verwahrte. »Ich hatte ihn gern«, sagte er leise. »Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, bevor er starb.« Ein schwaches Lächeln stahl sich in sein Gesicht. »Anscheinend sehe ich genauso aus wie er, als er in meinem Alter war – bis auf seine blauen Augen.« Strell streckte die Hand aus, um Alissa aufzuhelfen.
»Das stimmt, vor allem deine Haare.«
»Er hatte Haare?« Strell machte große Augen.
Grinsend rückte Alissa überflüssigerweise seinen Hut zurecht. »Oh ja. So dunkel und widerspenstig wie deine.«
»Er hatte Haare!«, rief Strell aus. Dann verblasste sein Lächeln. Zögerlich hob er eine Hand zum Kopf, fuhr mit den Fingern unter den Hut und strich über seinen dunklen Schopf, um hinterher nachzusehen, ob mit der Hand etwa ausgefallene Haare zum Vorschein kamen. Er bemerkte ihre lachenden Augen und zuckte verlegen mit den Schultern. »Für gewöhnlich überspringt es eine Generation«, brummte er und wandte sich ab, um den langsamen Marsch zu beginnen.
Alissa folgte ihm und hatte es ein klein wenig leichter, weil er voranging. Der mühsame Weg verhinderte ihre übliche Unterhaltung, und sie blieb sich selbst überlassen. Das war schon an leichten Tagen eine gefährliche Situation, doch in letzter Zeit wurde es immer schlimmer. Es machte sie schrecklich nervös, dass sie jedes Mal beinahe ins Koma fiel, wenn sie versuchte, ihre Quelle oder die Pfade zu sehen. Während der vergangenen Tage hatte sie vormittags, wenn Strell am schweigsamsten war, geübt, wie sie ihre Quelle finden und sich zugleich ihrer Umgebung bewusst bleiben konnte. Das erste Mal war eine Katastrophe gewesen. Die Versuchung, sich ganz ihrer inneren Sicht hinzugeben und in eine leichte Trance abzugleiten, war beinahe unwiderstehlich.
Glücklicherweise, oder eher bedauerlicherweise, wurde sie jedes Mal, wenn sie das tat, ziemlich schmerzhaft in die Wirklichkeit zurückgerissen, weil sie sich den Zeh an einem Felsbrocken stieß oder auf einem losen Stein ausglitt und hinfiel. So sicher, wie aus Schafmist Blumen wachsen, verlor sie dann vollständig ihr inneres Gesicht und musste wieder von vorn anfangen. Strells Sorge über ihre häufigen Stürze hatte sich rasch abgenutzt, und nun folgte jedem Ausrutscher nur noch ein kaum hörbares »Bein und Asche. Schon wieder?«. Das Ganze war eine harte Übung, für ihren Geist ebenso wie für ihre Schienbeine, doch gestern hatte Alissa gemeint, endlich Fortschritte zu erkennen.
Heute blieb Strell ungewöhnlich schweigsam, sogar während ihrer seltenen Pausen. Alissa nutzte seine Laune, um viel länger zu üben, als sie es bisher getan hatte. Bis zum späten Nachmittag gelang es ihr, die Kugel zu visualisieren und gleichzeitig aufzupassen, wo sie hintrat. Ja, dachte sie nickend, es wurde merklich leichter. Ihr freudiges Lächeln hielt genau drei Herzschläge lang – bis sie gegen Strell prallte. »Entschuldigung«, brummte sie, rieb sich die Nase und trat zurück.
Er drehte sich halb um und grinste sie an. »Stolperst du da hinten immer noch so herum? Wir sind schon lange aus den dicksten Ranken heraus. Wenn du so müde bist, können wir auch anhalten und das Lager aufschlagen.«
Sie blickte auf und sah zum ersten Mal an diesem Tag mehr als den kleinen Kreis um ihre Füße herum. Die Dornensträucher und Kletten waren verschwunden. Sie standen in einem richtigen Hochwald, auf etwas, das wie ein überwucherter Weg aussah. »Für die Nacht?«, fragte sie schockiert. »Die Sonne steht noch so hoch.« Sie drehte sich langsam um sich selbst und blickte in wachsender Erregung
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