Alissa 1 - Die erste Wahrheit
aus den Händen. Alissas Augen weiteten sich. »Bein und Asche. Das Holz ist bearbeitet«, flüsterte er und starrte Strell in unverhohlenem Staunen an. »Wie bist du an ein Stück geschnitztes Euthymienholz gekommen?«
»Sie gehörte meinem Großvater.« Strell fühlte sich betrogen und streckte steif die Hand nach der Flöte aus. Nicht sein Großvater, dachte er. Jeder, nur nicht er.
Nutzlos gab ihm zögernd die Flöte zurück und beobachtete, wie Strell sie in seine Kitteltasche steckte. »Aus wem bist du hervorgegangen?«, murmelte Nutzlos leise, und Strell erschrak. »Dein Familienname«, half Nutzlos ihm auf die Sprünge. »Obgleich Euthymienholz bis auf seine ungewöhnliche Härte und Dichte keine besonderen Eigenschaften besitzt, ist es doch sehr schwer zu bekommen. Ein so großes Stück bearbeiteten Euthymienholzes habe ich schon seit – langer Zeit nicht mehr gesehen.«
»Mein Familienname bedeutet nichts mehr«, sagte Strell barsch. »Sie sind alle tot.«
Nutzlos blinzelte. »Du entstammst einer ausgemerzten Linie? Aus dem Tiefland? Welche ist es?«
Strell verschlug es den Atem, und er weigerte sich, darauf zu antworten. Ausgemerzte Linie! War der Tod seiner Familie etwa arrangiert worden?
Nutzlos deutete zornig mit dem Finger auf ihn, als wollte er ihn zu einer Antwort zwingen, überlegte es sich dann aber offenbar anders. »Schön«, erklärte er schnippisch. »Das spielt ohnehin keine Rolle. Wenn es dir nicht gelingt, Alissa von der Feste fernzuhalten, wirst du bald ebenso tot sein wie der Rest deiner Sippe.« Er blickte in den prasselnden Regen. »Ich gehe jetzt. Ich kann dich nicht retten, wenn du darauf bestehst, dich selbst umzubringen.« Er richtete den Blick wieder auf Strell. »Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Ich kehre euch den Rücken. Euch beiden.«
Alissa brach da, wo sie saß, in sich zusammen.
Zitternd vor Wut stand Strell auf und blickte auf Alissa hinab. »Ich will mit dir auch nichts mehr zu tun haben – Nutzlos.«
– 16 –
O h nein!, dachte Alissa entsetzt, als sie ihre leere Frühstücksschüssel abstellte. Ihre Stiefel! Was hatte er mit ihren wunderschönen Stiefeln angestellt! Sie bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen, als sie Strells stolzes Lächeln sah. »Danke, Strell«, murmelte sie. »Jetzt werden sie meine Füße gewiss trocken halten.«
»Hm«, brummte Strell, dessen allmorgendliche mürrische Miene vor freudiger Verlegenheit ein wenig errötete. Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht, kam stolpernd auf die Füße und löschte ihr Feuer.
Alissa schluckte schwer und betrachtete das hässlichste Paar Stiefel, das zu besitzen sie je das Pech gehabt hatte. Es war drei Tage her, seit sie sie völlig durchweicht hatte. Strell hatte völlig zu Recht befunden, dass sie das Schicksal herausforderte, indem sie sie nicht ölte, und beschlossen, es selbst zu tun – nachdem sie gestern Abend eingeschlafen war. Offensichtlich hatte er sie damit überraschen wollen. Das war ihm gelungen.
Sie wusste, dass sie ihre Stiefel beim ersten Anzeichen von Regen hätte ölen müssen – schließlich hatten sie ewig lange in dieser Truhe gelegen –, doch Strell besaß dafür nur eine widerliche dunkle Schmiere. Alissa hatte befürchtet, diese würde ihre entzückenden cremefarbenen Stiefel braun färben. Damit hatte sie recht gehabt. »Eitelkeit«, flüsterte sie, »dein Nachname lautet Schmerz.«
»Wie bitte?«, fragte Strell und goss sein Rasierwasser weg.
»Ich habe gesagt: ›Fein, wenigstens regnet es nicht mehr.‹«
Er band seine Schlafmatte an sein Bündel, so langsam, als koste ihn die einfache Aufgabe all seine geistige Kraft. »Ja. Klarer Himmel. Es wird wieder heiß werden.« Er blickte in den blauen Dunst auf. »Ich könnte jetzt ein bisschen Frost vertragen.«
»Strell!«, rief sie warnend. »Halt den Mund!«
»Was ist denn?«, nuschelte er gähnend.
Alissa warf einen nervösen Blick in den wolkenlosen Himmel. Das Wetter in den Bergen war so unberechenbar wie das Abendmahl einer jungen Braut. »Warum musstest du das sagen? Jetzt gibt es vielleicht …« Sie zögerte. Wenn sie das Wort aussprach, würde es nur umso schneller eintreffen.
»Schnee?«, sagte er, und ein schwaches Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er seinen Hut zurückschob.
»Sei still!«, schrie sie, schnappte sich ihre Stiefel und zwängte ihre Füße so hastig hinein, als ballten sich bereits dichte Wolken zusammen. Dann hielt sie inne, verblüfft darüber, wie
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