Alissa 1 - Die erste Wahrheit
seinen Becher. »Gehen wir«, sagte er, stand auf und nahm Hut und Mantel. »Ich will nachsehen, ob diese Tür unter der Treppe noch verschlossen ist.«
»Ich habe es dir doch schon gesagt«, erwiderte Alissa und stand ebenfalls auf. »Von dieser Kammer führt kein Gang weg. Nutzlos muss irgendeine andere Treppe gemeint haben. Aber vielleicht finden wir ja heute Abend mein Buch.«
Strell brummte zweifelnd, und sie gab ihm recht. Bailic hatte die letzten vierzehn Jahre danach gesucht und es nicht gefunden. Außerdem hatten sie ja viel Zeit. Wahrscheinlich waren sie jetzt bereits eingeschneit. Der Sturm kam von Nordwesten. Es würde nicht mehr aufhören zu schneien, bis der Schnee so hoch lag, dass sie den Berg nicht wieder hinuntergelangen konnten.
Alissa spürte ein Kribbeln der Erregung, als sie in ihren Mantel schlüpfte und sich eine Kerze nahm. Sie spülten rasch das Geschirr und gingen zur großen Halle. Zuvor hatten sie nur einen kurzen Blick in den Speisesaal geworfen, während das Essen kochte, doch in dem kahlen Raum gab es nicht viel zu sehen: mehrere lange schwarze Tische mit passenden harten Stühlen, schwere rote Vorhänge, die eine Wand bedeckten, und einen gewaltigen Kamin, schwarz und leer. Zusammen gelangten sie durch den Torbogen in die leere Dunkelheit der großen Halle.
Das Licht ihrer Kerzen wurde von dem vier Stockwerke hohen Raum einfach verschluckt.
Strells vorsichtiges Tempo machte Alissa ungeduldig, und sie ging voran zur gegenüberliegenden Wand, welche die Treppe trug. Auf den ersten Blick schien sie nur aus fest gemauertem Stein zu bestehen. Alissa sah genauer hin, und die Erinnerung ihres Papas half ihr, den Umriss einer Tür zu finden. »Hier«, sagte sie und strich mit dem Zeigefinger über die haarfeinen Spalten zwischen den Steinen. »Hier hat mein Papa sein Bündel versteckt.«
Schweigend trat Strell zu ihr, den Blick auf den gelblichen Stein gerichtet. Er runzelte die Stirn, stellte seine Kerze ab und versuchte, eine Fingerspitze in den Spalt zu schieben. Die Steine waren zu genau aneinandergefügt, als dass mehr als ein Daumennagel dazwischengepasst hätte. »Nutzlos hat gesagt, der Zugang sei die Kammer unter der Treppe in der großen Halle«, flüsterte er. »Glaubst du, es könnte hier eine noch größere Halle geben als diese hier?« Dann wandte er sich lächelnd zu Alissa um. »Was hat dein Vater getan, um sie zu öffnen?«
Alissa riss die Augen auf. »Du meinst, ich könnte das auch?«
»Warum nicht?«
Ihr Herz pochte laut, und sie reichte Strell ihre Kerze. Nervös stand sie vor der Tür und sammelte sich. »Er hat seine Hand hierhin gelegt«, sagte sie und streckte vorsichtig die Handfläche aus, bis sie den Stein berührte. Er fühlte sich kalt an, und sie wartete gespannt darauf, dass etwas geschah. Plötzlich kam sie sich albern vor, ließ den Arm sinken und trat zurück.
»Da muss wohl doch mehr dran sein«, sagte Strell ohne einen Anflug von Belustigung.
Alissa errötete. Hatte sie tatsächlich geglaubt, sie könnte diese steinerne Tür bewegen? Magie, schnaubte sie innerlich. Wie hatte sie auch nur denken können, so etwas gebe es wirklich?
»Schade«, sagte Strell. »Bailic hat sich das Bündel deines Vaters wahrscheinlich schon geholt.«
»Wahrscheinlich«, flüsterte Alissa, deren Enttäuschung größer war, als sie erwartet hatte.
»Glaubst du, Nutzlos hat diese Tunnel da gemeint?«
Alissa drehte sich nach den Eingängen um, die als schwarze Löcher in der Dunkelheit gähnten. Sie war müde und wollte sie heute Abend nicht mehr erkunden, schon gar nicht im Dunkeln. Ihr Papa hatte gesagt, die Tunnel führten zu Lagerräumen. »Ich glaube nicht«, sagte sie leise, und beim Gedanken an ihren Papa wurde ihr das Herz schwer. »Warum suchen wir uns nicht einen Platz zum Schlafen? Wir können morgen mit der Suche anfangen.«
Strell nickte, und sie gingen zur Treppe. Alissa hatte fast einen Monat lang jede Nacht im Freien verbracht und genug von Zweigen im Haar und Feuern, die mitten in der Nacht erloschen. Ein warmes Bett erschien ihr im Augenblick wertvoller als alles andere. Durchgefroren und müde folgte sie Strell die beeindruckende steinerne Treppe hinauf in den ersten Stock. Der erste Raum, auf den sie trafen, war groß und leer und hatte mehrere, nicht mit Läden verschlossene Fenster. Alissa wunderte sich, dass der Schnee draußen herumwirbelte, aber nicht hereindrang, und beugte sich hinaus in das graue, vom Schnee verschleierte
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