Alissa 1 - Die erste Wahrheit
aufgewachsen. Sie konnte gar nicht ängstlich und aufgeregt sein, wenn sie von so vielen vertrauten Kräutern und Bäumen umgeben war, die sie auch in ihrer überwucherten Unordnung unter der wachsenden Schneeschicht noch erkannte. Der Garten erstreckte sich anscheinend über die gesamte Seite der Feste, doch das andere Ende war hinter dem Wildwuchs und den gemächlichen weißen Flocken verborgen. Was sie von hier aus davon sehen konnte, schien eher ein Streifen Wald und Feld zu sein als ein richtiger Garten, und Alissa liebte ihn schon, bevor sie ihn ganz gesehen hatte. Die fernen Mauern waren höher, als sie greifen konnte, und boten ein wenig Schutz vor dem eisigen Winterwind. Dennoch war es kalt, und sie schlang einen Arm um ihre Taille und machte kehrt, um sich mit einer Handvoll zu lang gewuchertem Schnittlauch auf den Rückweg zu machen.
»Ist diese Küche nicht unglaublich?«, bemerkte sie und schloss fest die Tür zum Garten.
»Ich hatte gehofft, dass sie dir gefällt.« Strell blickte von einem großen Haufen Zwiebeln auf. »Ich habe die Speisekammer gefunden.« Er machte große Augen. »Man kann aufrecht hineingehen! Sie ist größer als unsere Küche früher zu Hause. Und die Regale sind voll!«
»Der Winter ist erst angebrochen. Warum sollten sie nicht voll sein?« Dann wurde sie misstrauisch. »Warum hattest du gehofft, dass mir die Küche gefällt?«
Strell schniefte vom Zwiebelschälen. »Ein Teil der Abmachung lautet, dass wir drei Mahlzeiten pro Tag zubereiten, und zwar auch für ihn.«
Alissa zog die Augenbrauen hoch. Für gewöhnlich wäre sie nicht begeistert darüber gewesen, die Köchin für einen Wahnsinnigen zu spielen, der hässliche Dinge mit ihr anstellen würde, wenn er wüsste, wessen Kind sie war. Doch nachdem sie gesehen hatte, was er so aß, klang der Vorschlag vernünftig. Ansonsten würde er gar keine besonderen Kräfte brauchen, um sie loszuwerden – er müsste sie nur zwingen zu essen, was er gekocht hatte. »Entscheiden wir, was es gibt, oder er?«
»Ich habe gar nicht daran gedacht, danach zu fragen.« Strell legte nachdenklich sein Messer beiseite. »Ich nehme an, es dürfte ihm gleich sein, was wir ihm vorsetzen, wenn er diesen Eintopf gegessen hat. Was glaubst du, was da drin ist?«
Alissa schauderte, setzte sich Strell gegenüber und nahm sich eine Zwiebel. »Ich will nicht einmal raten.«
– 19 –
S ie bereiteten in aller Ruhe ihr Abendessen zu, und als sie sich schließlich zum Essen niederließen, war es schon fast dunkel. Dies war die erste gemeinsame Mahlzeit, die sie an einem Tisch einnahmen, und ihnen war geradezu festlich zumute. Der angespannte, besorgte Gesichtsausdruck, mit dem Strell seit gestern herumgelaufen war, löste sich, und er machte einen schlechten Witz nach dem anderen über Bailics Essgewohnheiten. Alissa ertappte sich dabei, wie sie vor sich hin summte, während sie den letzten Löffel des köstlichen Mahls aß, das sie und Strell zusammen gekocht hatten.
»Also«, sagte sie gedehnt, behaglich satt von Kartoffeln, Karotten und Keksen. »Du hast mir noch gar nicht gesagt, was wir außerdem für ihn tun müssen.«
Strell seufzte und schob seinen leeren Teller von sich. Er hatte so viel gegessen, dass Alissa nur staunen konnte, was in einen einzelnen Menschen hineinpasste. Er legte die Hände um seinen Becher Tee und lehnte sich zufrieden zurück. »Wir haben so viel zu essen, wie wir wollen, und den Großteil unserer Zeit für uns selbst. Dafür sorgen wir für Feuerholz für den Kamin in der Küche und alle anderen, die wir vielleicht benutzen möchten.« Strell grinste schlau. »Er hat gesagt, ich solle das Holz aus dem nahen Wald holen, nicht aus diesem Garten, den du gefunden hast.«
»Was ist mit seinem Feuer?«, fragte Alissa.
Strell zuckte mit den Schultern. »Davon hat er nichts gesagt, aber da seine Speisekammer so voll ist, dass es für uns alle bis zum Frühling reichen wird, nehme ich an, dass er sein Brennholz bereits irgendwo aufgestapelt hat. Abgesehen davon müssen wir nur für ein wenig Unterhaltung sorgen.«
Sie runzelte die Stirn. »Darum kümmerst du dich, ja?«
»M-m.« Er grinste. »Ich helfe beim Kochen. Du hilfst bei der Unterhaltung.«
»Ach, Strell«, flehte sie. »Kannst du ihm nicht einfach sagen, dass ich nichts tauge?«
»Das habe ich bereits«, erklärte er fröhlich. »Außerdem wirst du deine mangelnden Fähigkeiten mit deiner feurigen Begeisterung wettmachen!« Laut schlürfend leerte er
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