Alissa 1 - Die erste Wahrheit
übersehen worden, da sie sich an Alissas Hals schmiegte und sich unter ihrem Haar verbarg. »Kralle – sie ist ein Buntfalke«, sagte Strell. »Ist es möglich, dass ein so vornehmer Herr wie Ihr den geringsten der Falken nicht kennt?«
»Ich kenne sie wohl«, erwiderte Bailic knapp. »Ich habe sie nur nicht gesehen.« Seine freundliche Miene entglitt ihm für einen Augenblick, als er an der Narbe rieb, die von seinem Ohr schräg zu seinem Hals und daran hinab verlief. Diese Geste jagte Alissa einen Schauer über den Rücken. Dann sackte er zusammen und verbarg seinen Zorn hinter einem höflichen Lächeln. Er beugte sich vor, und Alissa hielt den Atem an und musste sich beherrschen, um nicht zurückzuweichen.
»Keine Angst, meine Liebe«, sagte Bailic, der ihre Furcht offenbar bemerkte. »Ich bin kein schlechter Mensch. Ich werde Euch nicht davonjagen und Euch im Schnee erfrieren lassen. Ihr dürft den Winter bei mir verbringen.«
Das sollte zwar beruhigend klingen, doch die leise Drohung, die sich hinter seinen Worten verbarg, vernahm Alissa klar und deutlich, und sie schluckte schwer.
Strell stieß den Atem aus. »Wir nehmen Euer großzügiges Angebot an«, erklärte er förmlich, »und bitten Euch, uns bis morgen Zeit zu geben, ehe wir unsere neuen Pflichten aufnehmen.«
Bailic erhob sich abrupt, so dass Kralle und Alissa erschraken. »Abgemacht und abgemacht«, sagte er, nun wieder ganz beim Geschäftlichen. »Ihr könnt in der Küche wohnen, wenn Ihr möchtet. Ich weiß nicht, ob abgesehen von meinen eigenen Gemächern noch andere Zimmer halbwegs bewohnbar sind.«
»Dürfen wir uns trotzdem nach einem Zimmer umsehen?«, fragte Strell. »Wir schlafen schon ewig auf dem Boden.«
Bailic nickte großzügig. »Dann ersuche ich Euch, nicht höher zu steigen als meine Gemächer – also nicht über den achten Stock hinaus.« Er hielt inne und fügte dann, immer noch lächelnd, hinzu: »Da wird die Treppe schmal und rau. Das ist der Fuß des Turms, und die Stufen können gefährlich sein.«
Er zog seinen Mantel um sich, nickte ihnen zum Abschied zu und ging zu einem großen, offenen Durchgang. Alissa und Strell wechselten erleichterte Blicke. Dann zögerte Bailic, machte langsam auf dem Absatz kehrt und neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. Alissa schlug die Augen nieder und spürte, wie seine Aufmerksamkeit zwischen ihr und Strell hin- und herwanderte. »Sie ist nicht Eure Schwester, nicht wahr?«, murmelte er, und Alissa wollte das Herz stehen bleiben.
In der plötzlichen Stille schwebte Bailic heran wie ein Geist. Alissa fand, dass er gefährlich wirkte, verloren in den eigenen Gedanken, als hätte er vergessen, dass sie noch hier waren. »Nein«, sagte er seufzend. »Im Tiefland würde man jedes Kind, das so aussieht, lange vor seinem dreizehnten Jahr davonjagen.« Er stützte die Handflächen vor Alissa auf den Tisch, wo sich seine Hände stark von dem dunklen Holz abhoben. »Ich weiß das nur zu gut.«
»Daher ja die Schule«, sagte Strell glatt.
Bailic erwachte wie nach einem Schlag. »Ach, nun hört schon auf«, sagte er jovial. »Gebt einfach zu, dass Ihr ein Schleichhändler seid. Mir ist das gleich. Aber es überrascht mich doch. Stehen die Dinge dort unten so schlecht, dass ein junger Mann aus guter Familie, wie Ihr einer seid, sich so ein Stück menschlichen Treibguts aufladen muss, um über die Runden zu kommen?« Seine honigsüße Stimme ließ seine Anschuldigung nicht weniger widerlich klingen, als sie gemeint war.
Alissa hielt die Luft an, während ihre Panik sich in eine übelkeiterregende Mischung aus Erleichterung und kindlicher Angst verwandelte. Bailic glaubte, ihre Familie habe Strell dafür bezahlt, dass er sie wegbrachte, damit ihr guter Name nicht durch Alissas Existenz in Schande geriet.
Strell sagte nichts; die Hände, die er unter der Tischplatte verbarg, waren zu Fäusten geballt.
»Es ist klug von Euch, sie an die Küste zu bringen«, sagte Bailic. »Bei ihrem Haar bekommt Ihr dort vielleicht ein hübsches Sümmchen für sie – sofern sie einen Fisch ausnehmen kann.«
»Ich bin für Salissa verantwortlich, sie ist nicht mein Besitz«, erklärte Strell steif, und Bailic kicherte.
»Wohl nicht.« Er lächelte und zeigte dabei ebenmäßige weiße Zähne, als Alissa aufblickte. »Aber hier seid Ihr sicher. Ich werde Euch nicht verraten. Ich sehe es so: Es gibt keinen besseren Weg, den empfindsamen Augen der Gesellschaft den Anblick von Mischlingen zu ersparen. Eure
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