Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Tätigkeit ist durchaus bewundernswert – in gewisser Weise.« Bailic lockerte seinen Mantel und zupfte ihn sorgsam zurecht. Eine kurze, schieferfarbene Weste, die sie an das Lieblingsgewand ihres Papas erinnerte, lugte darunter hervor. »Könnt Ihr wirklich eine Geschichte erzählen und ein Liedchen spielen?«
Strell nickte, langsam und beherrscht.
»Gut. Mein Angebot steht. Wir sprechen uns morgen.« Er ging ohne ein weiteres Wort.
Alissa drehte es den Magen um, während sie auf den Tisch starrte und sich bemühte, die kindischen Ängste wieder zu begraben, die Bailic hinter ihren mühsam errichteten Barrieren gegen die hitzig verleugnete Wirklichkeit hervorgezerrt hatte. Sie war immer geliebt worden. Ja, die Dorfbewohner duldeten sie nur widerwillig, doch ihre Mutter hatte stets Alissas Tränen getrocknet und darauf beharrt, dass die anderen ein Problem hatten, nicht Alissa. Doch es gab Kinder, die nicht so viel Glück hatten – Kinder, die, wenn sie nicht einfach an Vernachlässigung starben, als schändliche Familiengeheimnisse aufwuchsen und so lange vor der Sonne und den Augen der Nachbarn verborgen wurden, bis ihre Familie genug Geld zusammenkratzen konnte, um jemanden zu bestechen, damit er das Kind wegbrachte. Solche Kinder fühlten sich ihr Leben lang schuldig und wertlos, und all das nur wegen ihres Aussehens. Ihr hätte es genauso ergehen können.
»Bei den Wölfen«, fluchte Strell. »Das hat ja nicht gut geklappt.«
»Nein«, stimmte sie ihm leise zu. »Aber wir sind hier.« Seufzend stand sie auf, und Kralle flatterte hinauf ins Gebälk. Alissa fühlte sich elend und verloren, als sie ihren tropfenden Mantel und den Hut am Feuer aufhängte und sich hinkniete, um es zu schüren. Ihr war kalt. »Danke, Strell«, murmelte sie der warmen Asche zu.
»Wofür denn?« Er wischte den restlichen Schnee von ihren Bündeln, damit die Pfützen auf eine Ecke des Raums begrenzt blieben.
Alissa biss sich auf die Unterlippe. »Dafür, dass du ihm gesagt … dass du gesagt hast, ich wäre …« Sie zögerte. »Dass du mich nicht für …« Sie verstummte und senkte den Blick. Sie konnte es nicht sagen – danke, dass er sie nicht für ein wertloses Nichts hielt, möglichst rasch an einen widerstrebenden Bieter zu verkaufen wie eine Wagenladung halb vergammelter Kartoffeln, die man am besten aus dem Dorf karrte und irgendwo ablud.
Strell verzog das Gesicht. »Ich hätte ihm eins auf die Nase geben sollen.«
»Dann säßen wir jetzt wieder draußen im Schnee«, entgegnete sie mit einem dünnen Lächeln.
»Wie heißt es so schön: Feigheit ist manchmal ein Zeichen von Klugheit, oder? Aber mir gefällt das nicht. Was hältst du von Bailic?«
Alissa wurde still und wich seinem Blick aus. Bailic verschlug ihr den Atem vor Angst, doch das wollte sie nicht zugeben.
Strell schien sie dennoch zu verstehen, denn er ließ ihre Bündel liegen und trat zu ihr, um in den Kessel zu spähen. Erleichtert, ein anderes Thema gefunden zu haben, steckten sie die Köpfe zusammen und musterten die rätselhaften Klumpen, die in der dicken, fettig aussehenden Suppe schwammen.
Alissa rümpfte die Nase, als ein säuerlicher Geruch zu ihnen aufstieg. »Was ist das?«
»Ich weiß nicht genau, eine Art Eintopf?« Strell stocherte mit dem Kochlöffel darin herum und verzog das Gesicht, als eine fettige Blase zerplatzte.
»Das esse ich nicht«, sagten sie wie aus einem Munde.
Beide lachten gezwungen und versuchten, ihre Anspannung zu vergessen. Alissa wandte sich ab und begab sich auf die Suche nach Essbarem. Strell nahm sich die Schränke vor und summte dabei ein Lied über eine Frau und ihren hungrigen Hund vor sich hin. Hinter einer schmalen Tür fand Alissa etwas, das wie ein Küchengarten aussah. Er hatte auch einen Komposthaufen, und dort wollte sie den Eintopf auskippen, falls Strell es ihr nicht ausredete.
Sie ließ sich Zeit und suchte im sacht fallenden Schnee nach frischen Kräutern. Nun, da sie wusste, dass sie jederzeit ans Feuer in der Küche zurückkehren konnte, genoss sie die frische Kälte. Sie hatten es geschafft – zumindest den ersten Schritt. Wenn ihnen jetzt kein dummer Fehler unterlief, würden sie Nutzlos befreien oder sich zumindest mit ihrem Buch wieder davonschleichen können. Selbst wenn Nutzlos Bailic nicht aufzuhalten vermochte, so müsste er ihnen doch irgendwie helfen können.
Alissa war sehr wohl bewusst, dass dieser Garten viel dazu beitrug, ihre Angst zu lindern. Sie war auf einem Bauernhof
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