Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Weise, die du dir jetzt noch nicht einmal vorstellen kannst. Daran kann ich nichts ändern. Du würdest dir nicht wünschen, dass ich das ändere, selbst wenn ich es könnte.« Er sah ihren trotzigen Blick und schüttelte traurig den Kopf. »Wenn Bailic erst weg ist, kann Strell nicht hierbleiben. Das wäre zu gefährlich.«
»Dann gehe ich mit ihm«, erklärte sie mit gerecktem Kinn.
Nutzlos schüttelte den Kopf und sah sie grimmig und entschlossen an. »Falls du gingest, ehe ich befinde, dass du dich und deine Zunge unter Kontrolle hast, wäre ich gezwungen, dich zu jagen und zu stellen.« Er zögerte. »Ich bin verpflichtet, deine Pfade für alle Zeit zu Asche zu verbrennen, um zu verhindern, dass jemals wieder ein abtrünniger Bewahrer frei im Land herumläuft.« Er schloss die Augen und schauderte. »Nie wieder.«
Alissa erstarrte, denn sie kannte sein verfluchtes Ehrgefühl gut genug, um zu wissen, dass er tatsächlich dazu fähig war, obgleich er sich währenddessen unablässig entschuldigen würde. Erst jetzt erkannte sie die Falle, die sie sich selbst gestellt hatte und in der sie bereits festsaß, und sie biss die Zähne zusammen. Sie fühlte sich verraten und verkauft und brachte kein Wort mehr heraus.
»Ich werde mich nicht dafür entschuldigen«, sagte er sanft. »Es ist schwer, wenn man gezwungen ist zu bleiben, bis ein anderer entscheidet, dich freizugeben, damit du deinem Herzen folgen kannst. So ist Ese’ Nawoer entstanden.«
Sie hörte das aufrichtige Bedauern in seiner Stimme, und das Mitgefühl in seinem Blick dämpfte ihren Zorn.
»Nur Bewahrer können sich dafür entscheiden, innerhalb der Feste zu leben, da sie dort nicht in Gefahr sind«, erklärte er. »Meistern schreibt es die Tradition vor, und Schüler bleiben immer, bis sie den höchsten Status erreicht haben, der ihnen möglich ist. Das ist ein langwieriger Prozess, der sich über Jahrzehnte hinzieht. Ese’ Nawoer wurde von einer kleinen Gruppe von Angetrauten unserer Bewahrer gegründet, die sich in der gleichen Situation befanden, in der du anscheinend steckst. Die Stadt wuchs allmählich zu ihrer heutigen Größe an und ist ja selbst als Ruine noch beeindruckend. Sie wurde liebevoll regiert von einer Herrscherfamilie, die stark von ihrem Bewahrer-Status beeinflusst war. Lodesh war der Letzte dieser Linie. Er war der Beste – ist der Beste.«
In Nutzlos’ Augen glühte eine weit zurückliegende Leidenschaft, und sie lauschte begierig, um mehr über die Vergangenheit zu erfahren, die er für gewöhnlich vor ihr verbarg. »Sobald die Feste voller Leben war und ein starkes Kommen und Gehen herrschte«, erzählte er, »diente Ese’ Nawoer bereitwillig unseren Bedürfnissen und lieferte alles, was wir uns an Gütern oder Diensten nur wünschen konnten. Wir hätten sie gar nicht daran hindern können. Uns zu dienen war in ihren Augen ihr Daseinszweck, und als Ese’ Nawoer fiel, zog die Stadt die Feste mit sich hinab.«
Nutzlos’ Blick war starr in die Vergangenheit gerichtet, und er saß zusammengesunken da. Er wirkte müde und ausgelaugt. Sein Traum hatte einen grandiosen Aufstieg erlebt, seinen Zenit überschritten, und nun war es damit anscheinend vorbei. »Vielleicht war meine Idee, eine solche Festung zu errichten, doch nicht so gut«, flüsterte er.
»Vielleicht bräuchtet Ihr sie nur ein wenig zu verändern«, schlug Alissa sacht vor. Es beunruhigte sie, ihn so niedergeschlagen zu sehen.
Seine Augen weiteten sich vor Staunen über ihre leisen Worte, und die grüblerische Stimmung fiel wie Wassertropfen von ihm ab. Er räusperte sich laut. »Ich gehe jetzt. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe«, mahnte er streng, doch sie sah ihm an, dass er in Gedanken anderswo weilte. »Wenn nicht um deinetwillen, dann Strell zuliebe. Du weißt noch längst nicht alles.« Er stand auf und verließ mit besorgt gesenktem Kopf die Feuerstelle.
»Nutzlos?« Alissa erhob sich und streckte den Arm nach ihm aus, und er hielt inne. Seine dunkle Gestalt stand still da, während der Schnee herabwirbelte und ihn umtanzte, als sei er schon halb fort.
»Es … es wird alles wieder gut«, stammelte sie ungeschickt, denn ihr wollten keine passenderen Worte einfallen.
»Mag sein«, entgegnete er, und mit einem kleinen Schneegestöber, einem Windstoß und kraftvollen, befreiten Flügelschlägen war er verschwunden.
– 23 –
D er schwache, angenehme Duft nach Äpfeln und Kiefernnadeln empfing Alissa, als sie durch die Dunkelheit
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