Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Offenbar fand er irgendetwas an ihrem Kampf mit dem Holz recht amüsant. Über ihre Schulter hinweg beobachtete er ihre mangelnden Fortschritte. Mit geschürzten Lippen versuchte sie es erneut. Es tat sich immer noch nichts; sie blies sich das Haar aus den Augen und zuckte zusammen, als Strell es ihr hinters Ohr strich. »Lass mich mal«, sagte er, als er nicht mehr widerstehen konnte.
»Nein«, erwiderte sie, und ihr Herzschlag beschleunigte sich von seiner leichten Berührung. »Wie du schon sagtest, ist das mein Stock.« Sie legte das Sägeblatt an, um es noch einmal zu versuchen. Strell streckte im selben Moment die Hand aus, und so zogen sie gemeinsam die Säge rückwärts, seine Hand auf ihrer.
Mit einem lauten Chrrr fuhr die Säge tief ins Holz. Verblüfft ließ sie die Hände sinken und wich zurück, wobei sie gegen Strell stieß. Er umfing ihre Schultern und hielt sie fest, damit sie nicht beide zu Boden gingen.
Der Duft des weiten, offenen Himmels und heißer Sanddünen umschloss sie, und ihr stockte der Atem. Mit großen Augen blickte sie zu ihm auf und kämpfte gegen Verzweiflung und Begehren zugleich. Er konnte nicht hierbleiben. Sie konnte nicht fortgehen. Sie fand keine Worte und blieb in ihrer Unentschlossenheit erstarrt.
»Alles in Ordnung?«, fragte Strell, in dessen Augen sich ebenfalls widerstreitende Emotionen zu spiegeln schienen.
»Ja.« Sie zögerte und rührte sich nicht aus seiner unabsichtlichen Umarmung fort. »Ja. Mir geht es gut.«
Strell holte Luft, als wollte er etwas sagen, stieß sie dann langsam wieder aus und senkte den Blick. Wortlos stellte er sie wieder auf die Füße, ließ ihre Schultern aber erst los, als er sicher war, dass sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Der unverkennbare Duft nach Kiefern und Äpfeln war sehr stark geworden, und Alissa blickte unwillkürlich auf der Suche nach Lodesh zu dem dunklen Durchgang hinüber. Doch der Duft kam ausschließlich von dem Holz. Strell trat verlegen beiseite und beugte sich über den Tisch, um den ersten Schnitt zu begutachten. Kralle hüpfte näher heran, und gemeinsam musterten sie die Kerbe. »Siehst du«, sagte er und klang dabei unsicher. »Brauchte nichts weiter als ein bisschen Muskelschmalz.«
»Bitte«, sagte sie mit einladender Geste, »mach du das.« Alissa fühlte sich so elend, als sie beiseite trat, so zerrissen, dass es ihr gleich war, ob er das Holz zersägen konnte oder nicht.
Strell stellte sich richtig vor den Tisch, nahm die Säge und zog. Chrrr, und er hatte mühelos den Stab halb durchgesägt. Chrrr, schon fast fertig, und Cchrrr, durch war er. Das abgesägte Stück fiel auf den Boden zu und hielt inne, von Alissas Feld aufgefangen.
Strell betrachtete das Stück Holz, das mitten in der Luft hing. »Süß wie Kartoffeln«, sagte er argwöhnisch. »Das war doch ganz einfach.«
Nein, war es nicht, dachte Alissa verwirrt. Das war sehr unfair und vermutlich Lodeshs Vorstellung von e i nem guten Witz. Ihr einen Stab zu schenken, der zu lang war, den aber nur Strell zersägen konnte, war nicht besonders nett. Alissa fielen ein paar passende Worte ein, die der Stadtvogt von ihr zu hören bekommen würde, sobald er es wagte, sich wieder hier blicken zu lassen. Sie löste den Schraubstock und zog ihren Stab heraus. Sie stellte ihn aufrecht vor sich hin und befand, dass er nun die passende Höhe hatte. Nicht dass sie in absehbarer Zeit irgendwohin wandern würde …
»Äh … Alissa?«, unterbrach Strell ihre Gedanken, und sie wandte sich um. »Willst du den Rest behalten?« Er deutete auf das Stück Holz, das noch immer über dem Boden hing, und zuckte mit den Schultern.
»Nein, du kannst ihn gern haben.«
»Danke.« Er streckte die Hand danach aus, und sobald seine Finger den kurzen Stab erreichten, ließ sie ihr Feld fallen. »Ich werde es noch ein letztes Mal versuchen«, sagte er, hielt den Stab hoch und blickte fachmännisch daran entlang. »Das wird eine prächtige Flöte abgeben«, murmelte er und wandte sich seinem Werkzeug zu.
»Du willst jetzt anfangen?«, fragte Alissa anklagend. Wie viel schlimmer konnte der Abend eigentlich noch werden?
»Warum nicht?«, warf er über die Schulter zurück.
Bedrückt kehrte Alissa in ihren Sessel vor dem Feuer zurück. Sie hatte Strümpfe zu flicken, und ihr neuester Rock musste gesäumt werden, doch nichts von alledem erschien ihr der Mühe wert zu sein. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf die flackernde Wärme der Flammen und
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