Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
trennen.
Alissa fühlte sich leer und wie betäubt, während sie Strells Musik lauschte, die sich in der Stille wieder erhob. Doch dann brach seine Melodie urplötzlich ab, und er spielte und sagte nichts mehr, den ganzen restlichen Abend lang.
– 24–
B ailic spürte ein sanftes Ziehen an seinem Geist, als die Fensterbanne fielen. Er hatte damit gerechnet, und dennoch hatte es ihn nun überrascht, und er erschrak. Die Feste würde von nun an nicht mehr selbst dafür sorgen, dass es drinnen warm blieb, zumindest nicht bis zum ersten Nachtfrost des nächsten Winters. Der Pfeifer, dachte er hämisch, würde eine kalte Nacht verbringen, da er dem Mann noch nicht beigebracht hatte, wie er Fenster selbst mit einem Bann belegen konnte.
Bailic legte seine Feder neben die Reste seines Abendmahls und blickte hinaus in die Dunkelheit. Das leise Zischeln des Regens drang allmählich in sein Zimmer und brachte den beißenden Geruch von nassem Stein und vergilbter Vegetation mit sich, die zu lange die Sonne nicht mehr gesehen hatte. Er schloss das Buch, das er gerade studierte, erhob sich und stellte sich auf den kleinen Rest, der von seinem Balkon übrig geblieben war. Nebel, feucht und kühl, trieb heran und legte sich wie Balsam auf die gespannte Narbe an seinem Hals. Später würde er einen Bann anbringen, der den Regen abhielt, doch nun stand er mit geschlossenen Augen da und genoss das Gefühl auf seiner überempfindlichen Haut. Der Mond würde morgen voll sein. Heute Nacht blieb die beinahe perfekte Scheibe hinter dem Regen verborgen. Bailic konnte kaum etwas von der Nacht sehen und wünschte, er könnte es. Sie roch köstlich. Bis zum Morgen würden selbst die letzten Schneereste, die sich in Senken und Schatten versteckten, geschmolzen sein, und sein Gefängnis war dann nicht mehr so sicher.
Bailic strich die kleinen Tropfen von seiner langen Meisterweste, wo sie einen dunklen Fleck hinterließen. Er machte sich keine Sorgen, dass der Pfeifer einfach gehen könnte. Die Bindung des Mannes an das Buch würde das nicht zulassen. Bailic hatte beobachtet, wie der junge Mann den aggressiven Schutzbann des Buches mit einer schlichten Berührung besänftigt hatte. Es war offensichtlich, dass die Erste Wahrheit Anspruch auf ihn erhob. Doch nun, da zumindest die tiefer gelegenen Bergpässe offen waren, würde die Versuchung, das Buch an sich zu reißen und damit zu fliehen, viel stärker werden. Es war höchste Zeit, den Pfeifer daran zu erinnern, was für ihn am seidenen Faden hing.
Bailic war mit den grundlegenden, einfachen Bannen fast fertig, doch noch immer blieb das Buch verschlossen. Die Fähigkeiten des Pfeifers hatten sich überraschend schnell gesteigert – allein in dieser Woche war er zu Aufgaben aus dem achten und zehnten Jahr förmlich vorangesprungen. Das untermauerte Bailics Überzeugung, dass die Meister die Unterweisung ihrer Schüler unnötig hinzogen, um die Sklavendienste möglichst lange in Anspruch nehmen zu können. Er hingegen würde morgen mit einigen der komplexeren Banne beginnen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das Buch geöffnet war, doch seinen Schüler zu ermuntern, sich noch mehr anzustrengen, würde nicht nur wirkungsvoll, sondern auch ein Vergnügen sein. Das Mädchen zu tyrannisieren würde vollauf genügen.
Erfreut von der Vorstellung, jemandem ein paar harmlose Qualen zu bereiten, sandte Bailic einen Gedanken aus, um die beiden zu finden. »In der Spülküche«, brummte er. »Genau da, wo sie hingehören.« Er wirbelte herum und griff nach seinem Tablett. Es hinunterzubringen war ein praktischer Vorwand für seinen Besuch in der Küche. Er hatte zwar noch nie seine Tabletts selbst zurückgebracht, doch er spürte das Bedürfnis nach einer Ausrede dafür, dass er in ihre Domäne eindrang.
Bailic erstarrte mit ausgestreckter Hand. Zu Asche wollte er verbrannt sein! Warum bei den Wölfen glaubte er, eine Ausrede zu brauchen? Die Feste gehörte schließ lich nicht den beiden. Bailic kämpfte darum, seinen Ärger zu zügeln, während er hinausstürmte und die Treppe hinuntereilte. Ein finsterer Gesichtsausdruck verzerrte seine Lippen, als er die Galerie über der großen Halle erreichte. Es war kalt ohne die Fensterbanne, doch das war es nicht, was ihn störte. Es war das dünne weiße Band, das sich in anmutigen Bögen einmal um die ganze Halle zog, an der Brüstung der Galerie im dritten Stock entlang.
»Ich hätte die Ringe entfernen sollen«, sagte Bailic und tastete
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