Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
lenkte von den kahlen grauen Wänden ab. Mit Ausnahme des Risses in der Wand sah sein Zimmer noch fast genauso aus wie damals, als er es bezogen hatte. Alissa wurde beinahe übel, als sie erkannte, dass er jederzeit einfach gehen könnte, und nichts würde mehr darauf hinweisen, dass er je hier gewesen war. Sie verzog das Gesicht und drehte sich wieder zu Strell um. Er hatte den Kopf unter der Decke vergraben und sah nicht so aus, als würde er sich ohne weiteres aus dem Bett holen lassen. »Strell.« Sie stand auf und klopfte sich die Hände ab. »Dein Unterricht.«
»Hm?«, erklang sein gedämpftes Stöhnen.
Sanft rüttelte sie an seiner Schulter. »Komm schon«, drängte sie. »Ich habe dir doch gesagt, dass diese zweite Kanne Tee gestern Abend keine gute Idee war.«
»Hm.« Er drehte sich um, ihr Rütteln zeigte Wirkung.
»Ich hole jetzt meinen Hut«, sagte sie drohend. »Wenn du immer noch nicht aufgestanden bist, bis ich zurückkomme, dann … dann …«
»Dann was?«, nuschelte Strell. Seine Augen waren jetzt offen, der Blick aber alles andere als klar.
»Das weiß ich auch nicht«, schnaubte sie, »aber es wird dir nicht gefallen.«
»Hm-m-m-m.«
Mit einem letzten ärgerlichen Schnauben ging Alissa hinüber in ihr Zimmer, um die Fensterläden zu öffnen. Die Vorstellung, ihr Zimmer könnte so stickig bleiben, während die übrige Feste vom Muff des Winters gereinigt wurde, war ihr unerträglich. Quietschend öffneten sich die Läden, und Alissa beugte sich hinaus in die eisige Stille; die Kälte sammelte sich sogleich zu ihren Füßen. Sie sah das fröhliche Zwinkern eines Feuers aus der Feuerstelle im Garten. Hastig wich sie zurück, denn die Vorstellung von Bailic, der in ihrem Schulzimmer saß, gefiel ihr gar nicht.
Sie riss ihren Hut vom Bett – erst gestern war sie damit fertig geworden, und er glich genau ihrem alten Hut, den sie Strell geschenkt hatte. Dann kehrte sie zu Strells Zimmer zurück. Zögernd lugte sie durch den Türspalt und stellte ohne Überraschung fest, dass er sich noch nicht gerührt hatte. »He!«, schrie sie, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Ich bin ja schon auf!« Er zuckte zusammen und riss die blicklosen Augen auf. »Ich bin wach.« Er rieb sich die stoppeligen Wangen, setzte sich auf und drehte sich um, bis seine Füße den kalten Boden fanden. Seine nackten Zehen lugten unter seiner Hose hervor, und Alissa wandte sich errötend ab.
»Ich warte in meinem Zimmer auf dich«, sagte sie und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.
»Wie es dir beliebt.« Er hielt im Halbdunkel zwei verschiedene Strümpfe hoch. Dann erst begriff er, dass er keine trug, und steckte die Füße hastig wieder unter die Bettdecke.
Alissa konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie zu ihrem Zimmer zurückkehrte. Sie freute sich darüber, dass zumindest eine moralische Grundregel im Tiefland genauso galt wie im Hochland. Da sie wusste, dass er eine Weile brauchen würde, ließ sie sich im Schneidersitz vor ihrem Feuer nieder, um sich in ihrem jüngsten Zeitvertreib zu üben.
Langsam, mit einem Seufzen der Konzentration, ließ sie den Atem ausströmen und formte ein Feld unmittelbar über den niedrigen Flammen. Bailics Fähigkeit, durch Felder Skulpturen aus Staub zu formen, war unglaublich, und Alissa versuchte seit fast einem Monat herauszufinden, wie er das machte. Alle ihre Felder waren mehr oder weniger kugelförmig. Sie erzielte kleine Erfolge, indem sie die Felder einander überschneiden ließ, so dass die Illusion einer anderen Form entstand, doch je mehr Felder sie aufbaute, desto schwieriger wurde es. Es würde Jahre dauern, bis sie mehr als eine Handvoll Felder auf einmal halten konnte.
Doch sie bemühte sich weiter. Allerdings nicht mit Staub. Davon hatte Strell einen schlimmen Anfall von Heuschnupfen bekommen. Stattdessen benutzte Alissa die Flammen eines Feuers. Sie hatte niemandem davon erzählt, schon gar nicht Nutzlos. Sie brach damit nicht ihr Versprechen, denn er hatte ihr ja erlaubt, nach Belieben mit Feldern zu arbeiten. Dennoch glaubte sie nicht, dass er damit einverstanden wäre, wie sie mit dem Feuer spielte.
Alissa machte ihr Feld so durchlässig, wie es ihr möglich war, ohne dass es völlig zerfiel. Das war schwierig, sogar viel schwieriger als ein undurchlässiges Feld, und nur ihre unablässige Übung ließ es nun so leicht aussehen. Die Form ihrer Gedanken wurde sichtbar, als ein Flämmchen bis zum oberen Rand des Feldes emporzüngelte. Die Hitze des
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