Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
werden, sich an ihn zu binden. Wäre er ein Bewahrer, sähe das vielleicht anders aus, wenn man den Mangel an passenden Gefährten und ihre Herkunft bedenkt, aber Strells neuronales Netzwerk ist vollkommen zusammenhanglos. Er ist ein Gemeiner, Lodesh. Ein Gemeiner aus einer unbeständigen Linie, die die halbe Feste unauffällig auszurotten versucht hat, weil sie nicht die Wesenszüge hervorbringt, die unsere Bücher und Tabellen vorhersagen.«
Lodesh rauschte das Blut in den Adern, und er musste sich bemühen, eine gelassene Miene zu bewahren, doch sein Herz jubelte. Talo-Toecan würde eine Verbindung zwischen Meister und Bewahrer zulassen! Und Strell war keines von beiden. Er sammelte seine Gedanken und fragte ruhig: »Wäre es Euch lieber, wenn sie verwildert?«
»Nein, selbstverständlich nicht.« Talo-Toecans Blick war fest auf die beiden jungen Leute gerichtet. »Doch sie wird ihren selbst gewählten Partner um ein Vielfaches überleben. Und wenn ein Raku einmal aus vollem Herzen liebt, bleibt diese Liebe unwandelbar.«
»Ich glaube nicht, dass ihnen das etwas ausmachen wird«, bemerkte Lodesh.
Talo-Toecan seufzte schwer. »Nein. Nicht zu Anfang. Aber die Jahre dehnen sich unerträglich in die Länge, wenn man allein ist – und nur noch von seinen Erinnerungen zehren kann.«
Stumm beobachteten sie Strell, der hilflos über Alissa wachte. »Was tun wir also?«, fragte Lodesh leise.
»Wir warten.«
»Wie lange?«
»Nicht mehr lange.«
Lodesh zog die Augenbrauen hoch. »Woher wollt Ihr das wissen? Der letzte Meister ihrer Art lebte noch vor Eurer Zeit.«
»Ich bin ihr Lehrer. Sie ist ein voreiliges kleines Ding. Es wird nicht lange dauern.«
Die Singvögel erfüllten den Garten mit ihrer Freude und Zuversicht. Eine kühle Brise strich durch die kahlen Zweige und brachte den Duft von feuchter Erde und wachsendem Grün mit sich. Es hätte ein herrlicher Tag sein können, wenn ihnen nicht ein solches Grauen bevorgestanden hätte.
»Ach«, seufzte Talo-Toecan und ging langsam zurück zur Bank, um sich zu setzen. »Ich bin zu alt für solche Dinge.«
– 31 –
L odesh, der sich faul an der Feuerstelle räkelte, öffnete ein Auge. Er hatte sich in der Sonne niedergelassen, um ein wenig zu dösen. Talo-Toecan würde ihn warnen, wenn Alissa erwachte. Links von ihm kniete Strell, hilflos über Alissa gebeugt, und merkte offenbar nicht, dass seine Knie nass wurden und die Kälte seine Ohrläppchen leuchtend rosa färbte. Der Meister, dachte Lodesh abfällig, sah nicht viel besser aus; er hatte so lange im Feuer herumgestochert, bis er es dadurch fast gelöscht hatte.
Ein leises Seufzen war zu hören, und Strell stand auf. »Können wir denn gar nichts tun?«, flüsterte der Pfeifer und setzte sich neben Lodesh auf die Bank. Strells Blick fiel auf seine schlammigen Knie, und er bedeckte sie mit den Händen.
Talo-Toecan blickte von seinem Feuer auf. »Nein. Es ist zu spät. Es war in dem Augenblick zu spät, in dem sie mein verfluchtes Buch aufschlug, und alles wurde noch zehnmal schlimmer, als es ihr dieses Stückchen Nagel gab.«
»Nagel?« Strells Augenbrauen hoben sich. »Was für ein Nagel?«
Lodesh kicherte. »Der Nagel, der im Buch versteckt war, natürlich.« Lodesh ignorierte Talo-Toecans tadelnden Blick und richtete sich auf. Der Pfeifer verdiente es, alles zu erfahren. Vielleicht war ein wenig Ablenkung vonnöten. »Was ich nicht verstehe«, bohrte er nach, »ist, wie es Eurem Nagel und diesem Buch gelingen konnte, einander so gefährlich nahe zu sein.«
Talo-Toecan rückte seinen Mantel zurecht. »Das war nicht meine Schuld«, erwiderte er. »Ich habe ihn ihrem Vater geschenkt, als Andenken, bevor ich zu meinem letzten Forschungsurlaub aufgebrochen bin. Ich wusste ja nicht, dass er ihn in das Buch stecken würde, und abgesehen davon war Mesons Linie gar nicht dazu aufgebaut worden, so etwas wie sie hervorzubringen. Es hätte keine Rolle spielen dürfen, dass das Buch und der Nagel zusammen waren. Offenkundig wurde der genetische Hintergrund ihrer Mutter nicht sorgfältig genug erforscht – oder jemand hat einen Fehler gemacht. Und als ich Alissas Potenzial erkannte, war ich gefangen und konnte ihn mir nicht zurückholen. Außerdem«, brummte er, »zieht das Buch alle Werkzeuge an, die es braucht, um seine Ziele zu erreichen. Wenn es nicht mein Nagel gewesen wäre, dann eben der Milchzahn eines anderen, der irgendwann zwischen die Dielen gefallen war.«
»Und dieser Nagel von Euch tut
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