Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Saum seines Mantels färbte sich dunkel vom Schnee, als er sich vorsichtig einen Weg zwischen den schlafenden Pflanzen hindurch suchte. Alissa folgte ihm und versuchte sich den Weg durch den weitläufigen Garten zu merken. Es könnte nützlich sein, einen zweiten Ausweg aus der Feste zu kennen.
»Hier sind wir«, sagte Nutzlos leise, beinahe zu sich selbst.
Alissa nickte. Sie raffte ihren Rock, stieg vorsichtig hinunter in die große Vertiefung um die Feuerstelle und wischte den Schnee von einer Bank. Strell hatte ihr letzten Herbst hier ein Abendessen serviert, als Geste der Entschuldigung, weil er sich den Knöchel verstaucht hatte und alle Arbeit an ihr hängen geblieben war. Sein aufmerksames Verhalten ihr gegenüber hatte sie verwirrt, und sie hatte nicht recht gewusst, was sie davon halten sollte. Von ihrem Abend unter den Sternen war nichts geblieben bis auf schwarze, mit Schnee bestäubte Kohle. Und ihre Erinnerungen. Alissa musste ein Lächeln verbergen, als sie daran dachte, wie sie an seiner Schulter eingeschlafen und beim Aufwachen von seinem Herzschlag und der Wärme seiner Umarmung empfangen worden war. Es war ein sehr, sehr angenehmer Abend gewesen.
Vorsichtig ließ sie sich auf der kalten Bank nieder. Nutzlos setzte sich neben sie, und Alissas Augen weiteten sich, als sie seine Hände sah. Seine Finger hatten tatsächlich ein zusätzliches Gelenk. Offenbar merkte er, dass sie seine Hände anstarrte, denn der Meister verbarg sie in seinen Ärmeln. So plötzlich und unerwartet wie ein lautes Niesen flammte ein neues Feuer aus den Überresten des alten auf. Noch ehe sie etwas dazu sagen konnte, erschien eine hässliche Teekanne im Schnee. Verblüfft teilte Alissa ihre Aufmerksamkeit auf, um einen Blick auf das Netz der Pfade zu werfen, die still in ihrem Unterbewusstsein ruhten. Nutzlos hatte einen Bann gewirkt, und das Muster der Pfade, die er dazu benutzt hatte, würde eine Resonanz in ihrem eigenen Geist erzeugen und ihr damit teilweise zeigen, wie dieser Zauber funktionierte.
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie ihre geistige Landschaft betrachtete. Die schwache Resonanz zeigte ihr zahlreiche miteinander verwobene Linien, die sich an mehreren Punkten kreuzten und sich von dort in bestimmte Richtungen ausbreiteten. Das sieht nicht allzu schwierig aus, dachte sie, als der schwache Schimmer verblasste. Vielleicht könnte ich –
»Denk nicht einmal daran, das zu versuchen«, murmelte Nutzlos, füllte die Kanne mit Schnee und stellte sie in die Flammen. »Du bist noch längst nicht bereit dafür. Nun denn«, sagte er bestimmt. »Ich werde mich kurzfassen, da es nicht klug wäre, mich hier allzu lange aufzuhalten. Versucht Bailic, Strell genug Wissen einzutrichtern, damit er das Buch aufschlagen kann, so wie ich gehofft hatte?«
Alissa nickte. »Heute hat er ihm eine Quelle gegeben. Nicht viel. Nur eine Prise.«
»Tatsächlich?«, bemerkte Nutzlos und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Ich frage mich, wo er auch nur so wenig davon gefunden haben mag.« Er streckte die Hände dem Feuer entgegen, so dass die langen Finger beinahe die Flammen berührten. »Sie kann dem Pfeifer allerdings nichts nützen, da er nicht von Bewahrern abstammt, sondern ein Gemeiner ist.«
Alissa runzelte die Stirn. Strells Pfade mochten ein nutzloses, unbrauchbares Gewirr von Sackgassen und verknoteten Knäueln sein, doch ihn als Gemeinen zu bezeichnen war beleidigend. Kralle spürte offenbar Alissas Zorn und kniff sie in die Schulter, woraufhin sie den Vogel auf einen kahlen Busch setzte.
»Wie die Dinge stehen«, fuhr Nutzlos fort, »ist es mir im Grunde nicht verboten, meine Feste zu betreten, sondern nur, Bailic zu töten, solange er sich darin aufhält. Aber ich werde nicht lange bleiben. Das wäre nicht … klug.«
Alissa rutschte auf dem kalten Stein herum. »Könnt Ihr Euch nicht einfach das Buch nehmen, und dann gehen wir alle zusammen?«
»Nein. Ich habe mein Wort gegeben. Mir blieb keine andere Wahl, sonst hätte er dich zu Asche verbrannt.«
»Aber es wäre so einfach«, versuchte sie ihn zu überreden. »Es liegt oben in seinem Zimmer.«
Nutzlos zog die Augenbrauen hoch. »Du verlangst von mir, mein Wort zu brechen?«
Alissa war beschämt, weigerte sich aber, den Blick zu senken.
»Nun, ich habe niemandem geschworen, es mir nicht zu nehmen.«
»Nur zu«, sagte er verächtlich. »Damit ersparst du mir weitere Bemühungen, dich am Leben zu erhalten.«
»Ich habe keine Angst vor
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