Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
gespürt haben … Ich weiß es auch nicht. Du bist anders als alle Bewahrer, die ich je gekannt habe.«
Verlegen blickte Alissa zu Boden, doch er erwartete offenbar keine Antwort von ihr, denn er fuhr fort: »Du lässt nicht zu, dass deine Angst dein Temperament dämpft, und wie bei den Hunden meines Herrn hast du deine Quelle und Pfade in deinen Gedanken gefunden, obwohl dir niemand etwas von ihrer Existenz gesagt hat? Es ist beinahe, als … Du erinnerst mich an …«
Alissa hob den Kopf. Nutzlos betrachtete sie mit einer seltsamen Mischung aus Bestürzung und Freude. Er musterte sie eindringlich, bis sie sich wieder vorbeugte und im Feuer herumstocherte, um sich mit irgendetwas abzulenken. »Sag mir«, begann er abrupt. »Gefällt dir Strells Musik?«
»Ja«, platzte sie heraus, verwundert über den plötzlichen Themenwechsel.
»Er sagt, du schläfst dabei oft ein.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Sein Flötenspiel ist sehr beruhigend – meistens.«
Nutzlos nickte. »Du bist auf einem Bauernhof aufgewachsen. Da hast du doch sicher viele Haustiere gehabt?«
Alissa starrte ihn an. Was für eine Frage ist denn das? , wunderte sie sich. »Nein. Wir konnten nicht einmal eine Katze in der Scheune halten. Alles, was Beine hatte, ist uns davongelaufen.«
»Und du magst die Kälte, wie ich sehe?«
»Ich liebe Kälte«, erwiderte sie sarkastisch und kuschelte sich tiefer in ihren Mantel.
»Ja, natürlich.« Nutzlos war in Gedanken offensichtlich anderswo. »Dieses Buch, das du vergangenen Monat gefunden hast – du hast es Bailic offenbar sehr ungern ausgehändigt, obwohl du wusstest, dass du dort drüben im Wald sterben würdest, wenn du es nicht tätest.«
Alissa zupfte an ihrem Ärmelsaum herum und versuchte, den sehnsüchtigen Stich zu ignorieren, den sie bei der bloßen Erwähnung des Buches empfand. Die Erste Wahrheit Bailic zu übergeben war das Schwerste, was sie je getan hatte. »Ich werde es mir zurückholen«, sagte sie. »Es gehört mir.«
»Das Buch gehört mir, nicht dir«, erwiderte er, und seine raue Stimme klang bemerkenswert sanft.
»Mir hat es etwas anderes gesagt!«, schrie sie und schlug sich dann die Hand vor den Mund, entsetzt über ihren Ausbruch.
»Nun«, sagte Nutzlos milde, »vielleicht hat mein Buch tatsächlich so etwas behauptet. Das würde vieles erklären, was bisher nicht zusammenpassen wollte.« Als nehme er eine schwere Bürde auf sich, schüttelte er den Kopf und seufzte ergeben. Die hässliche Kanne im Feuer begann zu dampfen, und zu Alissas Erstaunen drückte Nutzlos mit der Hand gegen den Sitz auf der Bank neben ihm. Die Sitzfläche glitt mit einem schleifenden Geräusch beiseite und enthüllte ein kleines, steinernes Kästchen.
Begierig beugte sie sich vor, als er das Kästchen herausholte und öffnete, um sich gleich darauf zurücksinken zu lassen, als sie feststellte, dass es nur Teeblätter enthielt. Nutzlos ließ sich nicht anmerken, ob er ihre Enttäuschung überhaupt wahrgenommen hatte oder sie einfach nicht beachtete. Er streute die Blätter ins Wasser, schloss das Kästchen und schob den Sitz wieder darüber. Sie spürte ein Zupfen an ihrem Geist, als ein Bann gewirkt wurde, so schnell, dass sie keine Chance hatte, sich das Muster zu merken, das die Resonanz in ihrem Unterbewusstsein erzeugte. Zwei braune Becher, ebenso hässlich wie die Teekanne, erschienen aus dem Nichts. »Wenn ich darf, Alissa«, sagte er langsam, »würde ich mir gern deine Pfade ansehen. Um mich zu vergewissern … äh … dass die Verbrennungen, die du erlitten hast, als du meinen Bann entfernen wolltest, richtig verheilt sind.«
Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, denn sie wunderte sich über seinen Tonfall, der nun nicht mehr befehlend klang, sondern beinahe respektvoll. »Dazu müsst Ihr mit Euren Gedanken in meine eindringen, nicht?«, fragte sie argwöhnisch. Das gefiel ihr gar nicht. Jedes Mal, wenn er das tat, fürchtete sie, er könnte mehr sehen, als ihr lieb war.
Er nickte. »Diese Technik wird mit einiger Übung immer leichter. Das ist eine Ausbildungsmethode, ein ganz gewöhnlicher Vorgang zwischen Lehrer und Schüler. Aber wenn du dich dem nicht gewachsen fühlst …« Er ließ die Herausforderung in der Luft hängen.
Sie atmete tief durch und rang ihre unvernünftige Angst nieder. Nutzlos würde ihr nichts antun. »Was soll ich tun?«
Nutzlos blickte zum dunklen Himmel auf und zog die gekreuzten Beine unter sich. Er betrachtete sie eindringlich, verzog
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