Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
das Gesicht und nickte schließlich. Im Schneidersitz auf der Bank sitzend, verbarg er seine seltsamen Hände in den Falten seiner Mantelärmel. »Würdest du bitte deine Pfade ansehen?«
»Gut.« Ihr Herz schlug schneller vor Angst, und sie teilte ihre Aufmerksamkeit, um ihre Pfade vor ihrem inneren Auge zu visualisieren. Die dünnen, spinnennetzartigen Linien schwammen an die Oberfläche, ein fantastisches Gewirr, das sich in alle Richtungen verzweigte. Die Pfade waren dunkel und still, da sie gerade keine Energie enthielten, und vor dem bläulichen Schwarz ihres inneren Bewusstseins nur anhand der dünnen goldenen Fäden zu erkennen, die sich durch die Kanäle zogen; sie schienen zu schimmern, wo die Pfade einander kreuzten und sich vereinigten.
Dicht dahinter, doch irgendwie in einem seltsamen Winkel dazu, befand sich ihre Quelle. Die Kugel aus Energie war mit einem dichten Geflecht glänzender Fäden umhüllt. Sie konnte nicht sagen, was sich im Inneren dieser hellgoldenen, beinahe weißen, hohlen Kugelform befand. Alissa stieß leicht den Atem aus, als sie wieder einmal darüber staunte, dass sie heil und ganz war, dass ihre Pfade nicht mehr zu unbrauchbarer Kohle verbrannt waren, nur durch ihre eigene Dummheit.
Nutzlos zog die Augenbrauen hoch. »Siehst du sie?«, fragte er vorwurfsvoll. »Du hast ja immer noch die Augen offen.«
»Ich kann sie auch schließen, wenn Ihr möchtet.«
»Nein, schon gut«, sagte er geistesabwesend. »Wenn du bereit bist, können wir es jetzt versuchen.« Er blickte ins Feuer, und Alissas Augen schlossen sich ganz von selbst, als sich seine Präsenz in ihren Gedanken materialisierte. Augenblicklich wurde sie von empörter Panik überflutet, und sie musste gegen den Drang ankämpfen, ihn in Gedanken anzugreifen. Einen Furcht erregenden Moment lang hielt sie ihre tödliche Gegenwehr im Zaum, und dann noch einen. Alissa schnappte nach Luft, als sie ein Aufwallen von Energie um ihre Quelle spürte – die instinktive Reaktion, ihn mit einem mentalen Energiestoß zu vertreiben.
Seine Gedanken verschwanden aus ihren, und sie sank erleichtert zusammen. Als sie die Augen öffnete, starrte Nutzlos sie an.
Seine bernsteinfarbenen Augen waren groß und unergründlich und schienen im Feuerschein zu glitzern.
»Das ist keine gute Idee«, sagte er gedehnt. »Ich habe meine Unterweisung noch nie mit jemandem begonnen, der so völlig ungeschult war wie du.«
»Nein.« Sie schluckte, und ihr Herzschlag beruhigte sich. »Ich … ich kann das besser. Ich hätte es fast gehabt.«
»Besser?«, brummte er. »Du musst vollkommen vertrauenswürdig sein, sonst kann ich nicht bleiben.«
Vertrauenswürdig! , dachte Alissa aufgebracht. »Wenn Ihr nicht einfach so selbstherrlich hereinstürmen würdet, könnte ich Euch vielleicht eher entgegenkommen!«, erwiderte sie, weil sie nicht zugeben wollte, dass sie sich selbst nicht im Griff hatte.
Die Miene des Meisters wurde ernst. »Noch einmal«, verlangte er, derart zu einem weiteren Versuch herausgefordert.
Alissa schloss die Augen, fand ihre Pfade und stellte überrascht fest, dass sie Angst hatte. Wenn sie das hier nicht schaffte, würde Nutzlos ihr gar nichts beibringen. Sie zitterte, vor gespannter Erwartung ebenso wie vor Kälte. Ihr Atem beschleunigte sich, und sie spannte sich an. Zu Asche wollte sie verbrannt sein. Was, wenn es ihr nicht gelang?
Sie hörte ein Seufzen, und ein bemerkenswert vorsichtiger Gedanke schob sich zwischen die ihren, nur die Andeutung einer Präsenz, die sich langsam zu einem Flüstern steigerte. Seine ungewöhnlich zurückhaltende Gegenwart machte es ihr leichter, und sie brauchte nur einen Augenblick, bis sie sich im Griff hatte. Langsam atmete sie aus. »Seht Ihr?« , dachte sie und stieß ihre primitiven Gedanken beiseite. »Ich kann es.«
»Bist du sicher?« , fragte Nutzlos in ihrem Kopf, und Alissa hatte den Eindruck, dass er sich dort zurechtrückte. »Nun, dann wollen wir mal sehen, was du bewältigen kannst.«
Alissa schwieg und versuchte, sich nicht zu winden, als sie die leichte Berührung seiner Gedanken in ihrem Geist spürte. »Ich w erde jetzt einen Bann aufbauen« , erklärte er. »Wenn deine Pfade vollkommen … äh … g e heilt sind, sollte es ein Echo geben, eine Reflexion auf deinem neuronalen Netzwerk. Siehst du, welche Bereiche eine Resonanz zeigen?«
»Ja« , dachte sie nervös, als mehrere Schleifen zu schimmern begannen. Sie bildeten ein verschlungenes Muster, das sich in sechs
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