Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
was einen Bann in einem Feld auslöste. Alissa hatte selbst schon festgestellt, dass das in gewissem Grade stimmte. Die Zauber auf den Fenstern verbrannten ihr die Finger und Gedanken selbst dann, wenn sie sie aus Versehen berührte. Doch andere, wie der Bann, den ihr Papa auf ihrer Türschwelle hinterlassen hatte, taten ihr nichts.
»Sofort, Pfeifer!«, rief Bailic ungeduldig.
Strell holte tief Luft. Er verzog das Gesicht und streckte vorsichtig die Hand aus.
»Bitte nicht« , dachte Alissa in der Hoffnung, dass das Buch sie hören und verstehen würde.
Als hätte man eine Kerze ausgeblasen, erlosch das Feld, als er es berührte. Strell riss die Hand zurück und sprang auf. Offensichtlich erschrocken blickte er erst Alissa an, dann Bailic.
»Gut«, sagte Bailic. In dem knappen Wort schwangen starke Emotionen mit. Er wirkte beunruhigend still. Alissa wartete ab, denn sie wusste, dass es noch nicht zu Ende war. »Öffne es«, sagte Bailic.
Strell schüttelte den Kopf und wich einen Schritt zurück.
Bailic warf Alissa einen verschlagenen Blick zu – eine stumme Drohung. »Öffne es«, wiederholte er, und Strell verzog das Gesicht. Er ging erneut vor dem Buch auf die Knie, wischte sich die Hände an der Hose ab und griff nach der Schließe.
Ein scharfer Knall war zu hören, und Alissa schnappte nach Luft. Strells Hand zuckte zurück, und er hielt sie schützend mit der anderen umklammert. Ein verbrannter Gestank wie von einem Blitzeinschlag drang ihr beißend in die Nase, und ihr wurde übel. Was konnte Bailic mehr verlangen?
»Weg von dem Buch«, sagte Bailic, und Strell wich zurück, um möglichst viel Abstand zu gewinnen. Bailics sonst so verschlossene Miene zeigte einen harten, gierigen Ausdruck. »Macht euch bereit«, sagte der Bewahrer und riss das Buch vom Tisch. »Wir gehen spazieren.«
Alissas Sorge wich der Überraschung. »Draußen? Im Schnee? Wozu denn?«, fragte sie.
»Meine Versuche, ein wenig Wissen in den Schädel dieses Pfeifers zu hämmern, könnten sich in Kürze erübrigen. Wir gehen nach Ese’ Nawoer. Jetzt.«
»Ihr könnt die Feste nicht verlassen. Dann kann Talo-Toecan Euch töten«, sagte sie und schlug die Augen nieder, als Bailic sich ihr zuwandte.
»Tatsächlich?«, erwiderte er mit kalter Stimme. »Ich nehme euch beide und das Buch mit. Talo-Toecan hat es nicht gewagt, mich anzugreifen, als ich es letztes Mal in Händen hielt. Er wird es auch diesmal nicht tun.« Bailic ging zur Tür und sagte, eher zu sich selbst als zu ihnen: »Ich nehme an, wir werden nicht einmal seinen Schatten zu sehen bekommen. Er rechnet gewiss nicht damit, dass ich in den Schnee hinausgehe.«
Strell war wieder auf seinen Stuhl gesunken. Er starrte auf seine Hand hinab, die er ballte und streckte, als gehöre sie nicht zu ihm. »Ja, weil das dumm ist«, sagte er leise, als Bailic gerade den Raum verlassen wollte.
Bailic blieb auf der Schwelle stehen wie angewurzelt und riss zornig den Kopf hoch. Er drehte sich mit zusammengebissenen Zähnen um. Alissa warf Strell einen gequälten Blick zu. Warum konnte er seine Zunge nicht im Zaum halten?
»Ich denke, das Wort, das du eigentlich gebrauchen wolltest, war schlau«, sagte Bailic barsch. »Und du solltest zum Navigator und all seinen Hunden beten, dass ich damit keinen Erfolg haben werde. Denn wenn ich die Seelen der verlassenen Stadt erwecken kann, werde ich dich nicht mehr brauchen.« Bailic starrte mit entrücktem Blick aus dem Fenster in Richtung Ese’ Nawoer. Zitternd atmete er aus. »Ich habe lange genug gewartet«, flüsterte er heiser. »Etwas Schnee wird mich nicht aufhalten, wenn ich eine Chance habe, jetzt zu beginnen. Du hast den Bann von dem Buch entfernt. Vielleicht kannst du es öffnen, wenn du dich in der Stadt befindest.«
»Aber – der Schnee ist knietief!«, protestierte Alissa.
Bailics Blick klärte sich, und er zog spöttisch eine Braue in die Höhe. »Ich lasse dich nicht allein hier zurück. Du wirst es überleben, und wenn nicht, gibt es ein Halbblut weniger, um das sich die Welt zu sorgen hat.«
Sie erstarrte vor Entsetzen und fühlte sich so verraten, dass ihr übel wurde.
»Bailic«, sagte Strell in scharfem, warnendem Ton. Er funkelte den Bewahrer an, sein ganzer Körper spannte sich.
Ein gemächliches Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des gefallenen Bewahrers aus. »Aber genau das ist sie doch«, höhnte er, verlagerte ihr Buch auf die andere Seite und hielt es im Arm wie ein Kind. »Ein in Schande gezeugtes
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