Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
verschwommenen Grau, als sie tief in ihren Geist eintauchte. Sie hatte das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben, wusste aber zugleich, dass sie bewusster war als je zuvor. Alles, was blieb, war ihre schillernde Quelle. So unumkehrbar wie zwei Wassertropfen, die sich vermengten, verschmolz der Quellenstaub mit ihrem unbewussten Selbst, drang summend in jede Ecke vor, wurde von überall zugleich reflektiert und definierte mit glitzerndem Kribbeln und Kitzeln die Grenzen ihrer Existenz. Sie hatte zuvor geglaubt, diese Quelle, die sie in ihrem Geist sah, gehöre ihr. Das war nicht richtig gewesen, doch nun stimmte es.
Mit einem Furcht erregenden Reißen schnurrte ihre Quelle wieder zu der vertrauteren Vision einer schimmernden Kugel zusammen, irgendwo zwischen ihren Gedanken und der Wirklichkeit. Das war zweifellos der prachtvollste Anblick, den sie je gesehen hatte, und diese Pracht konnte Alissa niemals genommen werden. Nie.
Alissa öffnete die Augen und blinzelte. Nutzlos saß vor dem Feuer, den Becher zwischen seinen langen Fingern verborgen. Als sie sich aus ihrer zusammengesunkenen Haltung aufrichtete, wandte er sich ihr zu. »Wie … wie lange war ich weg?«, nuschelte sie, als sie merkte, dass der Tagesanbruch merklich näher gerückt war.
»Nicht lange«, versicherte er ihr. »Fühlst du dich jetzt besser?« Sein Blick richtete sich auf den fernen Horizont; so gewährte er ihr taktvollerweise die Zeit, sich halbwegs unbeobachtet wieder in der Wirklichkeit zurechtzufinden.
»In der Tat«, entgegnete sie gelehrt und schüttelte ihre Benommenheit ab. Langsam löste sie die verkrampften, steifen Finger von dem nun leeren Säckchen und hängte es sich aus alter Gewohnheit wieder um den Hals.
»Alissa?« Tiefe Besorgnis erklang aus seiner Stimme. »Sei vorsichtig. Was du heute Morgen geleistet hast, war notwendig, doch es hat dich auch in größere Gefahr gebracht. Du hast meine Erlaubnis, nach eigenem Gutdünken unbeaufsichtigt mit durchlässigen Feldern zu experimentieren. Bailic ist zu schnell für dich, doch du darfst dich an den Feldern und Bannen versuchen, die er von Strell verlangt.« Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich erwarte, dass du dabei äußerste Vorsicht walten lässt. Ich bin sicher, er wird Strell keine Banne geben, die ihm allzu große Kraft verleihen würden. Sie dürften also einigermaßen ungefährlich sein.«
Alissas Augen weiteten sich, und der letzte Rest ihrer schläfrigen Zufriedenheit verflog vor Überraschung. So viel Freiheit hatte er ihr noch nie gewährt. Und sie hatte nicht einmal darum bitten müssen!
»Achte darauf, mindestens eine Raku-Länge Abstand zwischen dir und Bailic zu halten, wenn du allein übst«, fuhr er fort. »Wenn er dichter bei dir ist, wird er bemerken, dass du einen Bann schaffst, und falls Strell gerade nicht in der Nähe ist, um die Verantwortung dafür zu übernehmen, wird Bailic erkennen, dass du es warst. Denk dabei auch an oben und unten, nicht nur an den horizontalen Abstand«, mahnte er. »Du kannst Felder und Banne an jeder beliebigen Stelle erschaffen, innerhalb einer Raku-Länge von deinem Standpunkt aus. Wenn du anstelle des Pfeifers etwas erschaffst, sorge dafür, dass du niemals weiter als eine Raku-Länge von ihm und von Bailic entfernt bist. Dann wird Bailic zwar spüren, wie du den Bann erschaffst, das aber Strell zuschreiben.«
Sie nickte und hörte seinen Worten an, dass er nun aufbrechen wollte.
»Also schön«, sagte er bestimmt, »wo ist dieser Vogel? Ich will spielen.« Nutzlos suchte den Himmel ab. Er fuhr leicht zusammen und wandte sich dem dichten Gebüsch zu, hinter dem die Tür zur Küche verborgen lag. Seine Augenbrauen hoben sich, und er holte Luft, um etwas zu sagen, schüttelte dann jedoch den Kopf und lächelte. »Benimm dich«, sagte er und trat aus der Feuerstelle. In einem grauen Wirbel nahm er die Gestalt an, mit der er zur Welt gekommen war.
»Wartet!«, rief Alissa und rannte auf ihn zu, um zu seinen Füßen wie angewurzelt stehen zu bleiben; wieder einmal war sie schockiert darüber, wie gewaltig er als geflügeltes Ungeheuer war. Sie konnte ein Keuchen nicht unterdrücken, als er den Kopf senkte, um sie besser zu sehen. Seine unergründlichen goldenen Augen waren so groß wie ihr Kopf, der Blick unerträglich tief. Alissa hätte beinahe die scharfen Zähne und die faltige, ledrige Haut vergessen können. »Danke«, murmelte sie und spürte, wie sie rot wurde, als sie seinen Hals in einer raschen,
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