Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
ruhig durch, erinnerte sich an das, was ihre Mutter sie gelehrt hatte, um sich zu entspannen, doch er war so schwer zu ignorieren wie eine Spinne auf ihrem Arm. Sie hielt den Blick fest auf ihre Näharbeit gerichtet und fuhr fort, die Felder zu erschaffen und aufzulösen. Ganz r u hig, dachte sie. Finde diesen ruhigen, stillen Punkt. Falls Bailic ihr ansah, wie zornig und beleidigt sie über sein Eindringen war, wäre es vorbei.
Endlich zog er sich zurück. Und keinen Augenblick zu früh, denn je länger er blieb, desto schwerer fiel es ihr, ihn nicht zu vertreiben. Sie überspielte ihr Schaudern, indem sie die Arme reckte. Doch dann fiel ihr etwas ein. Vielleicht sollte sie ebenfalls einen forschenden Gedanken aussenden? Falls Bailic ihn bemerkte, würde er annehmen, dass er von Strell ausging. Nutzlos hatte ihr nicht verboten, das zu tun. Was konnte es schon schaden?
Alissa hüstelte warnend, um Strell wissen zu lassen, dass sie etwas versuchen würde. Sein Fuß klopfte den Rhythmus eines vertrauten Liedes auf den Boden, und sie biss sich auf die Unterlippe, um sich ein Lächeln zu verkneifen. Das war ein Kinderlied zu einem Springspiel: »Ich bin bereit, bist du es auch?« Alissa behielt ihre Doppelrolle bei und flickte ihren Strumpf, während sie ihre Gedanken aussandte, ein bloßes Flüstern, das selbst sie kaum wahrnehmen konnte. Neugierig, welche Grenzen ihr wohl gesetzt sein mochten, probierte sie es zuerst bei Strell.
Das ist interessant, dachte sie, denn sie konnte das Gefühl, das sie in seinem Bewusstsein vorfand, nicht verstehen. Sie blieb eine Weile, versuchte sich in den Wirren seiner widersprüchlichen Emotionen zurechtzufinden und wunderte sich, bis ihre Wahrnehmung sich scheinbar um neunzig Grad verschob und einrastete. Erschrocken erkannte Alissa, dass Strell sich entsetzliche Sorgen machte.
Sie warf einen Blick zu ihm hinüber und staunte über seine lässig zusammengesunkene Haltung. Es sah ganz so aus, als kümmerte er sich einzig und allein um die kleinen, mit Staub gefüllten Kugeln, die in der Sonne schimmerten. Sein Zeh jedoch bewegte sich ganz langsam und zeichnete einen kleinen Bogen auf den Boden. Das war das einzige Anzeichen seiner gewaltigen Besorgnis. Stirnrunzelnd blickte sie tiefer. Unter der Sorge lag eine dunklere Emotion. Diese erkannte sie mit Leichtigkeit. Es war Angst, aber keine Angst um ihn selbst, nein. Es war Angst um sie und Angst davor, was sie wohl vorhaben mochte!
Mit glühenden Wangen zog sie sich zurück und zwang ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Socken. Es gehörte sich nicht, dass sie in Strells Gefühlen herumstocherte wie in Waren in einer Auslage. Sein innerer Aufruhr war alles andere als offensichtlich, doch nun, da Alissa wusste, was sie sah, erkannte sie es deutlich.
Sie konnte das nicht tun!, dachte sie mit einem eisigen Schauer. Strell wusste nicht einmal, was sie vorhatte, und doch hatte er sich bereiterklärt, die Folgen zu tragen, falls etwas schiefging. Ihr war nicht bewusst gewesen, was ihr Versagen bedeuten könnte, bis sie ihn so kurz vor der Panik gesehen hatte. Und diese Panik galt nicht einmal ihm selbst. Er machte sich mehr Sorgen darum, was mit ihr geschehen würde, nachdem Bailic ihn getötet hatte, als um seinen eigenen Tod. Asche! Bei den Wölfen, was hatte sie sich nur dabei gedacht!
Alissa zwang sich, tief durchzuatmen, und bemühte sich, ihre Finger ruhig zu halten, während sie einen weiteren zittrigen Stich in ihren Strumpf setzte. Ihre Neugier würde sie noch beide das Leben kosten. Sogleich gähnte sie, um Strell mitzuteilen, dass sie es sich anders überlegt hatte. Sein Fuß hielt inne. Langsam veränderte sich seine Haltung, bis er wahrhaft entspannt dasaß. Er seufzte sogar und schien beinahe einzunicken. Alissa warf einen Blick auf ihr Flickwerk und verzog das Gesicht, als sie feststellte, dass sie alles wieder auftrennen und von vorn würde anfangen müssen.
»Pfeifer!«, brüllte Bailic, so dass sie beide zusammenzuckten. Alissa ließ das Feld, das sie gerade hielt, zusammenbrechen, als sei das aus Schreck unabsichtlich geschehen. »Du denkst doch hoffentlich nicht daran, schon wieder einzuschlafen, oder?«, sagte er gedehnt in einem unendlich herablassenden Tonfall.
»Nein«, erwiderte Strell düster und verbarg die rechte Hand unter der linken.
Bailic schlenderte herbei, und seine goldene Schärpe wirbelte um seine Knöchel. »Noch einmal«, forderte er, die Hände drohend auf den Tisch gestützt.
Alissa konnte
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