Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
Schleifsteins, mit dem Reeve seine Gartenschere schärfte.
»Träumst du schon so früh am Tag?«, fragte seine Mutter und ließ sich ihm gegenüber nieder, um gutes Licht für ihre Näharbeit zu haben.
Reeve räusperte sich vielsagend. »Ich nehme an, unser Sohn ist in Gedanken noch bei der Zusammenkunft von gestern Abend. Dem Lärm nach zu schließen, den sie veranstaltet haben, muss sie ein Erfolg gewesen sein.«
»Ja«, stimmte seine Mutter trocken zu. »Ein gewaltiger Erfolg.«
Lodesh blickte in seinen Becher und lächelte. Sie war ein umwerfender Erfolg gewesen.
»M-m«, brummte Reeve. »Da fällt mir ein, jemand hat das Moos unter dem Baum ganz im Westen zerrissen. Sieh zu, dass es ersetzt wird. Und nimm Moos, das noch taufeucht ist«, mahnte er, den Blick fest auf die Schere gerichtet.
»Ja, Vater.« Lodesh errötete. Er hatte nicht gemerkt, dass sein Tanz mit Alissa Schaden angerichtet hatte, bis er heute Morgen hinausgegangen war, um den Hain zu überprüfen. Er hatte damit gerechnet, heftig gescholten zu werden. Diese ruhige Hinnahme kam unerwartet.
Seine Mutter kniff die Augen zusammen und zog einen Faden durch die Nadel. »Es überrascht mich, dass du es geschafft hast, überhaupt so früh aus dem Bett zu kommen.«
»Ich habe mein Bett noch gar nicht gesehen«, gestand Lodesh. »Ich habe den letzten Nachzüglern nach Hause geholfen.«
»Mit Alissa!«, rief seine Mutter aus und ließ ihre Näharbeit sinken.
»Nein. Sie hat das Fest verlassen, als der Mond aufging. Sie wurde zur Feste zurückgerufen.«
»Du hast sie ohne Begleitung nach Hause gehen lassen?«, fragte sie noch schockierter.
»Nein. Connen-Neute ist mit ihr gegangen.« Lodeshs Blick huschte besorgt zu Reeve hinüber, doch der war heute Morgen ungewöhnlich ruhig und gab sich mit einer leichten Grimasse zufrieden.
»Connen-Neute, sagst du?«, überlegte seine Mutter laut. »Reeve, mein Lieber. Was meinst du, was Redal-Stan von einem Bewahrer gewollt haben mag, das nicht bis zum Morgen warten konnte?« Sie biss den Faden ab, und eine frisch geflickte Schürze fiel auf den Haufen nie enden wollender Näharbeiten.
Reeve gab ein unverbindliches Brummen von sich.
Lodesh stapelte seine Teller, um Platz für die Teekanne zu machen. Was hatte Redal-Stan so dringend gewollt?, fragte er sich. Ja, Alissa war früh gegangen, aber er hatte ihr alles gesagt, wie er es geplant hatte. Und seine Worte waren gut aufgenommen worden. Alissa hatte nicht gehen wollen; Connen-Neute hatte sie praktisch mit sich gezerrt.
Reeve überprüfte die Schärfe der Klingen und machte sich wieder an die Arbeit. »Ein Jammer, dass sie mit einem wortkargen Flegel nach Hause gehen musste.«
»Ach was«, erwiderte seine Mutter. »Zu Pferde ist der Weg nicht weit.«
Reeve schnaubte. »Mit Connen-Neute ist das ein sehr langer Fußmarsch.«
»Er würde sie doch wohl nicht zu Fuß gehen lassen!«, protestierte seine Mutter. »Das würde ja die halbe Nacht dauern.«
Lodesh lächelte, und sein Blick war blind auf das Fenster gerichtet. »Sie ist gelaufen. Pferde mögen sie nicht. Das ist wirklich seltsam. Kein Pferd außer dem von Keribdis duldet sie auf seinem Rücken, und Häppchen steht im Stall auf der Feste.«
»Ach, das arme Mädchen«, seufzte seine Mutter. »Man stelle sich nur vor, so ein langer Weg, ganz in Schweigen.«
Lodesh spießte ein Stück Ei auf, das ihm entgangen war. »Alissa genießt seine Gesellschaft«, sagte er. »Sie hat den ganzen Tag mit ihm verbracht und ihm geholfen, das Sprechen zu üben.« Lodesh lächelte. »Gestern Abend hat er tatsächlich drei Worte zu mir gesagt.«
»Nein, so etwas«, erwiderte seine Mutter und schnappte erstaunt nach Luft. »Eine Bewahrerin, die einen Meister unterrichtet.«
Lodesh blickte auf, weil ihm ihr Tonfall merkwürdig vorkam, doch sie hielt den Kopf gesenkt und versuchte offenbar zu entscheiden, ob sie erst das Knie von Reeves liebster Arbeitshose flicken sollte oder ihre alte Haube. Die Hose gewann.
Lodesh nahm sich die letzte geröstete Brotscheibe. Er bestrich sie dick mit Erdbeermarmelade und fragte sich, wie Alissa so leicht das Vertrauen des schüchternen Meisters gewonnen hatte. Er hielt inne und leckte einen Tropfen Marmelade vom Brot, ehe er herunterfallen konnte.
Reeves rhythmisches Streichen hörte auf. »Wie ich sehe, hast du die Hinterlassenschaften bereits eingesammelt?«, fragte er gedehnt.
»Hm?«, brummte Lodesh und nickte dann, als sein Blick auf einen großen Korb an der Tür
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