Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
betreten. »Du scheinst heute besserer Laune zu sein«, bemerkte der große Bewahrer, schlug mehrere Eier über Strells noch heißer Pfanne auf und stellte sie wieder aufs Feuer.
»Nein.« Strell setzte sich an den Tisch. »Alissa ist auf halbem Weg in die Stadt. Ich will mich beeilen, sie einzuholen.«
An der Tür zum Garten gab Talo-Toecan ein leises Brummen von sich. Auch Lodesh blickte auf. Strell ignorierte ihre ungläubige Reaktion, stopfte sich weiterhin Ei in den Mund, kaute und schluckte. Er würde in die Stadt laufen, auch wenn sie womöglich umkehren und hierher zurückreiten würde, bis er dort ankam. Die Chance, dass er sie wieder hören könnte, dass sie ihn wieder hören könnte, war eine zu starke Versuchung.
Strells angespannte Schultern lockerten sich, als Talo-Toecan mit seiner Malerarbeit fortfuhr und damit stumm bestätigte, dass dies seine Entscheidung war, so närrisch sie auch erscheinen mochte. Lodesh hingegen räusperte sich, und Strells Anspannung kehrte zurück.
»Strell«, sagte Lodesh, »du wirst den ganzen Vormittag brauchen, um in die Stadt zu kommen. Bis dahin ist sie wahrscheinlich schon auf dem Rückweg. Du kannst mit einem Pferd nicht mithalten.«
Strell hielt den Blick auf sein Essen gerichtet, und ein Teil von ihm war überrascht davon, wie sehr seine Finger zitterten. »Was kümmert es dich, wie ich meinen Tag verbringe?«, fragte er. Dann erstarrte er, als Lodeshs letzte Worte ganz zu ihm durchdrangen. Langsam hob er den Kopf und sah, dass Talo-Toecan mitten im Pinselstrich erstarrt war. Der Meister erwiderte seinen Blick – er hatte es auch gehört.
Strell schob sein Frühstück von sich und musterte den Rücken von Lodeshs fein geschneidertem Hemd, während der Bewahrer sich über seine bratenden Rühreier beugte. »Woher weißt du, dass sie zu Pferde unterwegs ist?«, fragte er ruhig. »Ich habe mit keinem Wort erwähnt, wie schnell sie sich bewegt.«
Kaum merklich versteifte sich Lodeshs Haltung, doch es reichte aus. Talo-Toecan legte mit einem dumpfen Klack seinen Pinsel beiseite. Lodesh drehte sich um, und sein Blick huschte zu dem offenen Durchgang, ehe er Strell fest in die Augen sah. »Jeder reitet doch nach Ese’ Nawoer. Wie sonst sollte sie dorthin gelangen? Möchtest du meine Eier? Ich lasse das Frühstück lieber ausfallen. Ich habe noch viel zu tun.« Er schlug die Augen nieder.
Talo-Toecan richtete sich auf. »Sie könnte fliegen«, sagte er. »Ihr scheint Euch sehr sicher zu sein, dass das nicht der Fall ist.«
Strells Stuhl schrammte laut über den Boden, als er sich erhob. »Du erinnerst dich an sie, nicht wahr?«, flüsterte er und empfand bittere Befriedigung, als Lodesh sichtlich blass wurde. »Du weißt, dass sie zu Pferde unterwegs ist, weil du bei ihr bist. Genau jetzt. Du bist mit ihr zusammen! Du wusstest, dass dies geschehen würde«, sagte er vorwurfsvoll. »Und du hast nichts getan, um es zu verhindern!«
Lodesh trat vom Feuer zurück. Sein Schrecken war rasch durch einen trotzigen Gesichtsausdruck verdrängt worden. »Das stimmt nicht«, erklärte er steif. »Ich wusste, dass es geschehen würde, und ich habe mein Möglichstes getan, um es zu fördern.«
»Warum?«, schrie Strell und trat dicht vor ihn.
Lodeshs Kiefer verkrampfte sich, und er verweigerte die Antwort.
Talo-Toecans Miene war beängstigend starr. »Bei den Wölfen meines Herrn«, hauchte er. »Sie war die letzte Chance für meine gesamte Spezies, Lodesh. Wir sind im Aussterben begriffen!« Der letzte Meister stand Lodesh mit geballten Fäusten gegenüber. »Sie sollte uns frische Gedanken, Ideen oder zumindest eine neue Blutlinie bringen, auf die wir unsere Wiedergeburt aufbauen könnten. Nun ist es geschehen! Es ist vorbei! Und Ihr werdet mir sagen, warum!«
Lodesh wandte Strell den Rücken zu. Offenbar war er sich bewusst, dass er sich nun keinen Augenblick der Unachtsamkeit gegenüber Talo-Toecan erlauben durfte. Strell war verzweifelt. Lodesh hatte ihn abgetan, als stelle Strell keinerlei Bedrohung für ihn da. Und er hatte recht.
»Erinnert Ihr Euch an jenen Herbst?«, fragte Lodesh Talo-Toecan leise.
Der Saum von Talo-Toecans langer Weste zitterte. »Die Stadt hat Euren Onkel und Euren Vater verloren. Ihr wurdet zum Stadtvogt ernannt, obgleich ich sagen muss, dass Ihr für jemanden mit einem solchen Titel einen erbärmlichen Mangel an Ehrgefühl zeigt.«
»Es gab ein weiteres bemerkenswertes Ereignis«, sagte Lodesh steif, »doch um aufrichtig zu sein, hat es
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