Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
Reeve keinerlei Missbilligung wegen ihrer gemischten Herkunft zu befürchten hatte. »Meine Mutter stammt aus dem Tiefland.«
»Aha, na dann.« Reeve legte einen fleischigen Finger an die Nase, und Alissa lächelte, denn diese Geste kannte sie von Lodesh. »Ihr seid also doch Ese’ Nawoer. Ein bisschen von beidem und nichts so richtig. Aber wie habt Ihr es nur geschafft, während Eures bisherigen Studiums der Aufmerksamkeit meines Sohnes zu entgehen?«
»Alissa ist eine wilde Bewahrerin, Vater«, erklärte Lodesh gleichmütig.
Reeve zog den Fuß von der Bank und richtete sich auf. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Eine …!«, rief er aus. »Aber Euer Status ist jetzt der einer Bewahrerin?«
»Ja.« Lodesh funkelte Alissa an, als wolle er sie dazu herausfordern, es zu leugnen.
»In gewisser Weise …«, murmelte sie und blickte auf die Stelle, wo die Sonne durch das Blätterdach schien. Das gesprenkelte Muster aus Licht und Blättern tanzte in einer Brise, die am Boden nicht zu spüren war. Reeve ließ das Schweigen wirken und wartete ab. »Earan«, erklärte sie zögerlich, »scheint nicht der Ansicht zu sein.«
»Earan ist ein Narr!«, sagte Lodesh ungewöhnlich zornig.
»Wenn man es genau nimmt, hat er aber recht«, erwiderte Alissa. »Ich bin noch nicht offiziell anerkannt worden.«
Reeve nickte. »Und das wird wohl auch nicht vor dem Winter geschehen, wenn ein beschlussfähiges Quorum von Meistern zusammenkommt.«
Lodesh stand auf und ging auf und ab, als könne er in seiner Empörung nicht mehr stillhalten. »Earan veranstaltet jedes Mal einen Aufruhr, wenn er sie sieht. Heute Morgen hat er sie dazu getrieben, im Garten zu frühstücken!«
Alissa fand, dass Lodesh sich mehr daran störte als sie. Sie zog die Beine an und setzte sich im Schneidersitz auf die Bank. »Ich mag den Garten«, sagte sie. »Und im Speisesaal ist es mir zu laut.«
»Laut?« Reeve warf ihr einen scharfen Blick zu.
Alissa war verlegen ob dieser vielen Aufmerksamkeit und zuckte nur mit den Schultern. Reeve schwieg und starrte sie an, als versuche er, ein Rätsel zu lösen. Seine Musterung war ihr unangenehm, und sie streckte die Beine wieder aus und stellte die Füße auf das Moos, wo sie schließlich hingehörten. Reeve gab ein kehliges Brummen von sich. »Nun, wenn Earan Euch nicht im Speisesaal der Bewahrer essen lassen will, dürft Ihr dafür in meinem Hain spazieren gehen.« Seine braunen Augen blitzten schelmisch. »Sei es Werktag oder Ruhetag, bei Sonnenlicht oder Mondschein. Ihr seid hier willkommen.«
Lodesh blieb der Mund offen stehen. »Vater!«, würgte er schließlich erstickt hervor.
»Sei still, Junge«, sagte Reeve und grinste Alissa an. »Dies ist mein Hain. Ich kann hierher einladen, wen ich will.«
»Aber Vater!«
»Ich sagte, sei still!« Er nahm Alissas Hände und zog sie von der Bank. »Es ist ja nicht so, als hätte ich ihr die Bürgerschaft der Stadt verliehen.«
»Aber beinahe!«
Alissa schenkte dem gedrungenen Mann ein Lächeln und nahm seinen Arm. »Ich danke Euch«, sagte sie und freute sich über seine Einladung in den Hain – nicht nur um der Einladung selbst willen, sondern auch, weil sie Lodesh in solche Bestürzung versetzt hatte.
»Ach, dieser Junge«, sagte Reeve wehmütig, als Lodesh dramatisch die Arme in die Luft warf und ihnen den Rücken zukehrte. »Macht aus jeder Angelegenheit immer viel mehr, als dran ist. Und was Earan angeht … Solche Dinge nehmen oft eine gute Wendung – wenn man sie genau im Auge behält und springt, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
Alissa hatte keine Ahnung, wovon er sprach, doch er roch nach Erde und wachsenden, grünen Dingen, deshalb ging sie bereitwillig mit, als er sie zwischen die hohen Bäume führte. »Ein wunderschönes Fleckchen habt Ihr da zu pflegen, Reeve«, sagte sie und blickte zu den fernen Zweigen auf. »Es muss atemberaubend gewesen sein, als sie im Frühjahr geblüht haben.«
»Blühen?«, erwiderte Reeve. »Na, dieses Jahr haben sie das jedenfalls noch nicht getan.«
»Ja«, war Lodeshs seufzende Stimme hinter ihnen zu hören, denn er hatte das Schmollen aufgegeben und war ihnen gefolgt. »Schon seit fünf langen Jahren nicht mehr.«
Verwirrt wandte Alissa sich von Lodesh zu Reeve um. »Ich dachte, Euthymien blühen im Frühling, noch ehe sich die Blätter entrollen.«
Reeve warf wieder einen Blick in die schwankenden Zweige. »Frühling oder Herbst, manchmal auch dazwischen – wenn sie sich denn entschließen,
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