Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
wie ich mein eigenes Fenster schützen kann.«
»Und wie steht es mit den Büchern?«, fragte Redal-Stan. »Ich nehme an, du kannst noch nicht lesen?«
Nun ernsthaft beleidigt, griff Alissa nach dem nächstliegenden Bücherstapel und schlug eines auf. »Die unerwünschte vorzeitige Vermischung der Populationen«, las sie, »kann durch eine Barriere geographischer Natur verhindert werden, wie etwa Gebirge oder Meere, oder durch psychische Abgrenzung, zu der man Vorurteile einsetzt. Erstere Methode ist zuverlässiger, doch wenn diese Barriere einmal durchbrochen ist, lässt sich die Trennung kaum mehr aufrechterhalten. Die zweite Vorgehensweise ist zwar potenziell unsicherer, doch Verirrungen kommen erfahrungsgemäß recht selten vor, so dass man sich lediglich um Einzelfälle kümmern muss, ohne auf drastischere …«
Das Buch wurde ihr aus der Hand gerissen und mit lautem Knall zugeschlagen. Redal-Stan legte es außerhalb ihrer Reichweite ab und ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder. »Gut«, sagte er und wich ihrem finsteren Blick aus. »Du kannst lesen.«
Alissa prägte sich das Buch gut ein, denn sie wollte später danach suchen. Sie hatte den Verdacht, dass sie die Verirrung war, um die man sich im Einzelfall kümmern musste.
»Connen-Neute scheint recht beeindruckt zu sein von deinen – äh – beträchtlichen Leistungen«, brummte Redal-Stan. »Machen wir also weiter.«
»Sie lernt erst seit fast einem Jahr«, dachte Connen-Neute stöhnend.
Redal-Stan ignorierte den Einwurf und führte die Fingerspitzen aneinander. »Ich schlage vor, dass wir uns heute Vormittag mit den technischen Einzelheiten des Vorgangs befassen, der dich hierhergebracht hat. Alissa, zeig mir die Pfade, die du gebrauchst, wenn du dich verwandelst.«
»Jetzt?«, fragte sie und blickte mit großen Augen zum Balkon. Die schrille Stimme einer Zikade drang durch den Nebel. In der Ferne antwortete eine zweite. »Am helllichten Tag? Was, wenn mich jemand sieht?«
»Wir befinden uns sechzehn Stockwerke über dem Eingang, Eichhörnchen. In dieser Höhe sieht ein Raku aus wie der andere. Außerdem sollst du dich nicht verwandeln. Ich will nur eine Resonanz.« Er beugte sich über den Schreibtisch und kniff die Augen zusammen. »Du kannst mir doch eine Resonanz zeigen, ohne den Bann wirksam werden zu lassen, oder?«
»Selbstverständlich«, schnaubte sie empört. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und baute dann das richtige Gedankenmuster auf. Sie blinzelte Redal-Stan an und kämpfte darum, die innere Sicht und seinen äußeren Anblick gleichermaßen in ihrem Geist zu halten.
»Es ist perfekt«, brummte Redal-Stan, als sein Blick einen abwesenden Ausdruck annahm und er die Resonanz auf seinen eigenen Pfaden überprüfte. »Du benutzt haargenau das zu erwartende Muster.« Er runzelte nachdenklich die Stirn, so dass sich sogar ein Teil der Kopfhaut in Falten legte. »Zeig mir das Muster, das du benutzt, wenn du über einen Septhama-Punkt zwischen den Linien springst«, verlangte er plötzlich. »Versuche bitte, die beiden gleichzeitig zu halten.«
Alissa erstarrte. Was, wenn sie denselben Fehler noch einmal machte? Wer konnte sagen, wo sie dann landen würde!
»Sand und Wind. Bau es auf!«, rief er gereizt. »Du sollst den Bann nicht – ich wiederhole, nicht – ausüben. Verstanden?«
Sie warf Connen-Neute einen nervösen Blick zu und schloss dann die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Das Muster, das sie zur Verwandlung gebrauchte, schimmerte noch in ihrem Geist. Sie schluckte schwer und baute den Bann für den Liniensprung auf. Einen Augenblick später war er fertig. Wie erwartet war nun der erste Bann verschwunden. Zu den beiden Bannen gehörte nicht ein einziger gemeinsamer Pfad, deshalb konnte man sie nicht gleichzeitig aufbauen.
Ein wenig bedrückt, weil sie die Antwort nicht gefunden hatten, öffnete sie die Augen und bemerkte, dass Redal-Stan immer noch wartete. Sein Blick rückte in die Ferne, während er die Resonanz untersuchte. Ein schweres Seufzen entfuhr ihm, als sein Blick sich wieder klärte. »Ja. Genau das, was man erwarten würde«, sagte er, und sie verzog das Gesicht. »Es ist perfekt. Zumindest das hat Talo-Toecan richtig hinbekommen. Keine zusätzlichen Pfade, und du könntest sie unmöglich gleichzeitig halten. Es gibt einfach keine denkbare Möglichkeit, wie sich die Muster für die Gestaltwandlung und den Liniensprung überschneiden könnten, so dass beide ausgelöst würden. Bei den
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