Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
extrem unwahrscheinlich, einer Septhama zufällig zu begegnen – ebenso wie Shadufs –, denn sie entstanden nur aus einer gemischten Abstammung aus Tiefland, Hochland und Küste. Wenn man jedoch eine fand, bedeutete das, dass die von den Meistern sorgsam aufgebaute Trennung der Menschheit in drei separate Gruppen kurz davor stand zusammenzubrechen.
Der junge Diener eilte zwischen ihr und Connen-Neute hindurch, und sie richtete sich auf und schob ihre Sorgen beiseite. Der Junge brachte auch einen Becher für Lodesh, und sie schenkte ihm zuerst Tee ein. »Hat Connen-Neute dir von dem Jungen erzählt?«, fragte er mit beängstigend grimmiger Miene. Sie warf einen Blick auf Connen-Neute und nickte. »Ich bin froh, dass er das getan hat«, sagte Lodesh. »Sein Leben war die Hölle.«
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen und war erleichtert, als er sich wieder aufrichtete. Der heiße Becher ruhte in ihrer Hand, doch sie trank nicht. Obwohl sie mit der Methode der Feste, ihren Gewinn aus den Fähigkeiten der Shadufs zu ziehen, nichts zu tun hatte, fühlte sie sich trotzdem schuldig. Die Feste hatte sich geweigert, Lodeshs erste Liebe, eine Frau namens Sati, vor ihrem Schicksal zu bewahren, und sie war eine Shaduf geworden. Zuzusehen, wie seine zukünftige Braut verbittert und kalt wurde und schließlich nicht einmal seine Liebe erwidern konnte, hatte ihn beinahe umgebracht. Dass es Alissa gewesen war, die Satis Qualen ein Ende bereitet hatte, schien ihr dennoch eine bescheidene Wiedergutmachung für die kollektive Herzlosigkeit der Feste.
Hinter ihr schüttelte Lodesh erstaunt den Kopf. »Bein und Asche«, sagte er in respektvoller Ehrfurcht, offensichtlich, um das Thema zu wechseln. »Sieh sie dir an. Alle hängen sie an seinen Lippen, die Reichen wie die Armen. Ich habe so etwas noch nie gesehen – und ich habe schon viele Geschichtenerzähler erlebt.« Er verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß, den Blick noch immer auf Strell gerichtet. »Ich wette, er könnte eine Königin dazu überreden, ihm ihr Erstgeborenes zu überlassen«, raunte er.
»Ich glaube, es gibt nichts, was er nicht könnte«, sagte Alissa, als Strell ihrem Blick begegnete.
Lodesh gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich. Sie blickte über die Schulter zu ihm auf und sah, dass er die Finger gegen die Stirn drückte, als hätte er Schmerzen. »Geht es dir nicht gut?«, fragte sie, denn sie fürchtete, dass der Gedanke an Sati ihm zu schaffen machte.
»Doch.« Er stellte seinen Becher beiseite und trat zurück. »Ich brauche nur etwas frische Luft.«
»Na dann.« Bekümmert sah sie ihm nach, als er sich durch den vollen Saal drängte. Seine Schritte waren ungewöhnlich laut, und er verschwand in der Finsternis jenseits der offenen Vordertür. Alissa wandte sich dem alten Mann zu und schenkte ihm ein beiläufiges Lächeln, bevor sie sich wieder ihrem Tee widmete. Der Junge hatte ihr einen harten Keks dazu gebracht, und sie knabberte daran, überrascht von dem scharfen, salzigen Geschmack.
Strells Stimme hob und senkte sich, und Alissa lauschte eher diesem Auf und Ab als den Worten, die er sprach. Daher war sie ein wenig verblüfft, als Strells Geschichte endete und ein Seufzen durch den Raum ging. Stühle schrammten über den Boden, und laute Rufe nach den Kellnern erschollen über dem anschwellenden Lärm. Alissa spähte über die sich erhebenden Köpfe hinweg und sah, dass Strell sich einen wohlverdienten Schluck genehmigte. Den Becher an den Lippen, schluckte er und winkte gleichzeitig ab, als mehr Bitten an ihn herangetragen wurden. »Später!«, rief er fröhlich, als er den Becher absetzte. »Lasst mich erst zu Atem kommen!«, fügte er hinzu, als sich lauter Protest erhob.
Der Wirt eilte hinter seinem Tresen hervor. Er sah glücklicher aus als ein Bauer, dem es gelungen war, all sein Heu einzufahren, ehe der Regen einsetzt. Alissa hatte den müden Mann, der ihr gegenübersaß, beinahe vergessen, als er sich plötzlich zu ihr vorbeugte und murmelte: »Er kann sehen, nicht wahr?«
Erschrocken wandte Alissa sich ihm zu und spürte es kaum, als jemand im Gedränge ihren Ellbogen anstieß. »Wie bitte?«
Er wies mit dem Kinn quer durch den Raum. »Der große Mann, mit dem Ihr gekommen seid. Er ist nicht blind. Ich habe ihn beobachtet. Und Euch auch.«
Alissa blickte auf und stellte fest, dass Connen-Neute hinter einer Wand aus Menschen verborgen war. »Ja, er kann sehen«, sagte sie. »Er trägt die Tücher, um seine, äh, schweren
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