Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Stolz zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Ich habe Talo-Toecan versprochen, nur seine Unterweisung anzunehmen. Und die Quelle eines anderen Meisters nehmen?« Sie erschauerte. »Das erscheint mir nicht richtig, schon gar nicht, wenn man sie einem Toten nimmt.«
Über Yar-Taws Gesicht breitete sich ein Ausdruck, den Alissa für ein erleichtertes Lächeln hielt. Nickend sagte er: »Ich würde dich im Grunde nicht unterweisen, sondern dir nur die Philosophie erklären, die hinter dieser Aufgabe steckt. Talo-Toecan ist nicht in der Lage, das für dich zu tun. Schüler untereinander auszutauschen, ist eine gebräuchliche Praxis, wenn ein Schüler großes Talent auf einem Gebiet zeigt, das der ursprüngliche Lehrmeister nicht so gut beherrscht. Ich werde dich nicht anlügen. Es ist schwer, sich für diese Aufgabe zu wappnen. Die Kraft dafür zu finden ist härter als die jahrzehntelange Übung, die erforderlich ist, um ein Feld zu erschaffen, das groß genug ist.« Er blickte auf den Sand hinab. »Mit Talo-Toecans Erlaubnis würde ich dir die philosophischen Grundlagen dieser Fähigkeit erklären. Connen-Neute hat nicht die Geduld dafür, und Silla ist zu beschäftigt mit – ihren eigenen Schwierigkeiten. Deine Abscheu zu sehen, erweckt meine eigenen Ängste wieder zum Leben, die ich sicher abgelegt glaubte.« Seine Miene war ein sanftes Flehen. »Das ist eine notwendige Fähigkeit, Alissa, und sie wird dir Status verleihen. Status, den du dringend brauchen wirst.«
Alissa strich mit dem Finger über Kralles Gefieder. Sie hatte Nutzlos versprochen, sich nur von ihm unterweisen zu lassen.
»Aber wenn du dich nicht von mir unterweisen lassen willst, dann … hör mir nur zu, wenn ich am Feuer sitze – hin und wieder.« Yar-Taw lächelte schief. »Und übe fleißig weiter.« Er zögerte, dann fragte er: »Wie groß ist das Feld, das du erschaffen kannst, wenn du dich auf eines konzentrierst statt auf fünf?«
Ein ironisches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Für eine Gesellschaft, die so viel auf Regeln und Gesetze hielt, hatten diese Leute wahrlich ein Händchen dafür, sie zu umgehen. Sie blickte auf und las in seiner Miene, wie aufregend er die Möglichkeit fand, eine Fähigkeit weiterzugeben, die niemand sonst lernen wollte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »Ich habe es bisher nur mit mehreren kleinen Feldern versucht.«
»Würdest du es einmal versuchen?«, fragte er, und seine Augen schienen zu glühen. »Ich würde gern sehen, wie weit du schon bist.«
Alissa wand sich. Dies war der erste Anflug von Wertschätzung, den sie von einem dieser Leute bekam, und sie schämte sich nicht, ihm nachzugeben. Sie richtete den Blick wieder auf das Feuer und erschuf ein Feld. Sie konzentrierte sich, zwang das Feld, sich auszuweiten, und hatte Mühe, die Stärke genau richtig zu halten, während es sich ausdehnte. Sie begann zu schwitzen, als sie die Gedankenblase weiter auseinanderschob, und stellte überrascht fest, dass sie das gesamte Feuer darin einschließen konnte. Die Flammen leckten an den Seiten empor und krümmten sich wie feurige Locken nach innen, wo sie an den Rand stießen. Sie spürte, wie die Hitze in ihrem Feld wuchs, und machte es ein wenig schwächer, um etwas von der Wärme hinauszulassen.
»Bei den Wölfen«, flüsterte Yar-Taw, und sie begegnete seinem erfreuten Blick. »Du hast es. Du hast das Gleichgewicht perfekt erfasst! Wenn man zu viel Hitze einschließt, wird die Quelle zerstört. Wenn das Feld nicht stark genug ist, entkommt der Staub.«
Alissa ließ das Feld fallen. Sie sank zusammen, und ihr Herz pochte vor Anstrengung.
Yar-Taw blickte hinter sich in Richtung der großen Hütte. Von dort waren singende Stimmen zu hören. Sie ließen Alissa und Yar-Taw umso einsamer erscheinen. »Sehr gut«, sagte er, und ein Lächeln kräuselte seine dünnen Lippen. »Aber glaub nicht, du hättest die Technik schon ganz erfasst. Wenn du es richtig machst, wirst du nicht außer Atem geraten, und du wirst auch nicht schwitzen.« Er streckte den Arm um das niedrige Feuer herum und legte ihr eine lange Hand auf die Schulter. »Aber das war sehr gut.«
Seine Hand ruhte schwer auf ihr. Kralle keckerte warnend, doch Alissa machte seine Berührung nichts aus, denn sie spürte darin das gleiche Gefühl eines erfreuten Lehrmeisters, wie sie es von Nutzlos kannte. »Ich danke Euch«, sagte sie, und er zog die Hand zurück.
»Kommst du mit zur großen Hütte?«, fragte er und stand auf. »Ich
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