Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
hatte, war eine fast sichtbare Teilung entstanden. Vor zwanzig Jahren hätte es so etwas nicht gegeben. Keribdis wusste das ebenso gut wie er, und er fragte sich erneut, ob das der Grund für die Anspannung war, die er in ihrem gelegentlichen Lachen hörte.
Keribdis hatte immer einen Grund für alles, was sie tat, selbst wenn es ihm unsinnig erschien. Sie verhielt sich noch unvernünftiger als sonst, was Alissa anging, und Yar-Taw war noch nicht dahintergekommen, warum. Der kollektive Wunsch, nach Hause zurückzukehren, war nicht Alissas Werk. Schon seit drei Jahren wurde hier und da gebrummelt, man wolle zurück. Da sie aber den Weg nicht kannten, waren sie hier gestrandet, genauso hilflos, als hätten sie keine Schwingen. Doch mit einem Schiff und einer Mannschaft, die den Weg kannte, so dachte Yar-Taw, konnte Keribdis’ Weigerung, nach Hause zurückzukehren, nicht mit der Sorge um ihre Sicherheit begründet werden, sondern nur noch mit ihrem Stolz.
Ihre Heimkehr wäre ein Eingeständnis, dass Talo-Toecan recht gehabt hatte – er hatte ihr die Zustimmung zu einer kontinentalen Katastrophe verweigert, durch die sie die menschliche Bevölkerung reduzieren wollte. Doch auch das war kein Grund für Keribdis’ Feindseligkeit gegenüber Alissa, vom ersten Augenblick an. Die junge Frau schien recht nett zu sein. Die meisten anderen waren offenbar bereit, sie nach wenig mehr als einem neugierigen Blick in ihre kleine Familie aufzunehmen. Ihnen blieben schließlich noch mehrere Jahrhunderte, um sich eine Meinung über sie zu bilden. Kein Grund zur Eile.
Unruhe entstand, als Keribdis sich erhob. Sie bedeutete ihren Anhängern, sitzen zu bleiben, ehe sie sich zu ihm aufmachte. Yar-Taw war nicht überrascht und schob den Krug mit Beso-Rans Bier ein Stück beiseite, damit sie sich neben ihm auf den Tisch setzen konnte.
Keribdis sah ihn nicht an, während sie ihre Meisterweste sorgsam zurechtzupfte. Er hielt den Blick auf Strell gerichtet, der dramatisch gestikulierte und mit weit aufgerissenen Augen seine wundersame Geschichte erzählte. Yar-Taw fragte sich, wie viel Wahres an der Behauptung des Mannes sein mochte, er habe Alissa eine lebende Erinnerung gegeben, der sie anstelle eines Septhama-Punktes durch die Zeit hatte folgen können. Yar-Taw runzelte die Stirn. Der Tiefländer wusste für einen Gemeinen beängstigend viel über Meister und ihre Angelegenheiten.
Keribdis räusperte sich viel sagend, und Yar-Taw holte tief Luft. Es ging los.
»Was tut sie?«, fragte Keribdis mit grausam kalter Stimme. »Im Dunkeln sitzen und weinen?«
Yar-Taw gestattete sich ein kurzes Lachen. »Wohl kaum. Sie übt ihre, äh, Felder.«
»Sie versteckt sich«, erwiderte die Frau düster.
Yar-Taw riss den Blick von dem Pfeifer los und wandte sich ihr zu. »Kannst du ihr das verdenken? Sie ist kaum mehr als ein Kind. Sie hat einen Ozean überquert, um uns zu finden, und jetzt fragt sie sich vermutlich, warum. Was für ein Wind hat dir die Schwinge zerrissen, Keribdis? Dass Talo-Toecan deine Pflichten als Lehrmeisterin übernommen hat, ist kein Grund, auf dem Mädchen herumzutrampeln. Silla hat schon fast so viel gesehen wie sie, und das war meistens deine Schuld.«
»Es ist schon schwer genug, eine Waise großzuziehen«, erwiderte sie beinahe trotzig. »Und noch schwerer, wenn ich das tun muss, während ihr alle mit Bannen um euch werft, als hättet ihr keine Arme, um Holz zu tragen, oder Finger, um eine Seite umzublättern.«
»Wenn dir deine elterlichen Pflichten lästig sind, gibt es genug andere, die dir diese Aufgabe gern abnehmen würden«, sagte Yar-Taw, der genau wusste, dass Keribdis eher sterben als jemand anderem erlauben würde, Silla großzuziehen. Sie war die Tochter, die Keribdis von Talo-Toecan nicht bekommen konnte, weil sie zu stolz dazu war, und sie liebte das Mädchen mehr als sich selbst. Vielleicht, überlegte Yar-Taw, war es das, was Keribdis störte. Dass Silla nun jemanden außer Keribdis hatte, mit dem sie ihre Zeit verbringen konnte …
Keribdis sagte nichts und schlang die langen Finger mit täuschend lockerem Griff um ihren Becher.
Yar-Taw sah ihr an, dass sie innerlich zitterte, aber warum? »Und was ist mit Silla?«, fragte er, um sozusagen die Strömung der Luft zu prüfen. »Hast du denn gar nicht an sie gedacht?«
Furcht blitzte in ihren Augen auf und war sogleich wieder verschwunden. »Was soll mit Silla sein?«
Erregung durchfuhr Yar-Taw. Lag es wirklich nur daran? Dieses Problem konnte er
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