Alle lieben Merry
sie hätten jemals wieder zwei Minuten für sich allein.
Stattdessen schlüpfte sie in ihre Jeans und ein langärmeliges T-Shirt – das blaue – und sagte sich, dass nun Schluss damit sein musste, ständig nach ihm zu schmachten. Sie hätte ihn gestern nur einfach gern gesehen, das war alles. Offensichtlich hatte er etwas mit den Jungs erledigen müssen, denn sie hatte seinen Wagen gegen Mittag wegfahren und erst nach Einbruch der Dunkelheit wiederkommen sehen.
Nur weil sie miteinander geschlafen hatten, erwartete sie ja nicht, dass er ihr gleich den Hof machte.
Es war nur … mit ihm zu schlafen war etwas ganz Besonderes gewesen. Dass es so gar keine Gelegenheit für ihn gegeben hatte, zwischendurch einfach vorbeizuschauen und Hallo zu sagen, tat ein bisschen weh. Aber genug gegrübelt.
“Charlie? Ich fahre jetzt in die Schule. Ich werde ein paar Stunden weg sein …”
“Ich hab dir gesagt, dass du nicht hinmusst”, hörte sie Charlie aus ihrem Zimmer rufen, wo sie sich in ein Computerspiel vertieft hatte – begeistert, dass sie wegen des Elternsprechtags nicht zur Schule musste.
“Ich weiß, dass ich nicht
muss.”
“Ich kriege lauter Einsen. Das weißt du doch. Also ist es reine Zeitverschwendung.”
“Hm. Das hast du mir schon erklärt.” Merry stand nun in Charlies Tür, legte Lipgloss auf und zog den Reißverschluss ihrer Jeansstiefel zu. “Hey, vielleicht kannst du mir zeigen, wie man dieses Spiel spielt, wenn ich zurück bin.”
“Klar, als würde dir so etwas gefallen.”
“Also bitte, nur, weil ich kein Technikfreak bin, heißt das noch lange nicht, dass ich keine Spiele mag. Ich …” Das Festnetztelefon klingelte. Sie rannte in die Küche und hob dort ab, damit sie gleich ihre Schlüssel und ihre Tasche mit raus nehmen konnte.
“Hallo?” Sie seufzte. “So, nun reicht es mir. Das ist jetzt ungefähr das fünfte Mal”, sagte sie ins Telefon. Schweigen am anderen Ende der Leitung. “Entweder ist jetzt Schluss damit, oder ich melde es der Telefongesellschaft.” Sie legte unsanft auf, damit die Botschaft verstanden wurde. Ein- oder zweimal konnte es ein Versehen sein, aber mittlerweile hatte es zu viele dieser anonymen Anrufe gegeben. Irgendjemand erlaubte sich offenbar einen schlechten Scherz.
“Ich gehe jetzt, Charlie”, rief sie. Dann fuhr sie zur Schule.
Mit ihrem Mini Cooper fand sie leicht einen Parkplatz, obwohl der Kleine zwischen den großen Geländewagen ein wenig deplatziert wirkte. Als sie aber im Schulgebäude war, dachte sie, dass sie selbst es gut hinbekommen hatte, sich den anderen Eltern anzupassen. Sie mochte zwar ein bisschen jünger sein und keine Krokodillogos auf der Kleidung haben, aber den Rest ihrer Aufmachung hatte sie gut gewählt – Jeans, Stiefel, T-Shirt und einen Anorak.
Am Elternsprechtag galt für die Mütter und Väter der gleiche Stundenplan wie für die Schüler. Charlene hatte in der ersten Stunde Mr. Morann, also stellte sich Merry als Erstes dort an. Die Gespräche der wartenden Mütter drehten sich ums Essen, um fremdgehende Ehemänner, den Ausverkauf bei Kohl, die besten Scheidungsanwälte, das Honorar für Kindermädchen und darum, wie man sein Kind in die Ivy League und somit an eine der acht besten und renommiertesten Unis bekam. Die meisten Gesichter waren ihr bereits vertraut oder wurden es langsam. Die Frauen versuchten, sie in das Gespräch einzubeziehen – was gut war, denn man musste lange warten.
Mr. Morann war ein kleiner Mann in kariertem Hemd und mit einer Brille, die ihm ständig von der Nase rutschte. Er unterrichtete Sozialkunde und Geschichte. “Und Sie sind hier wegen …?”, fragte er Merry ganz wie ein klassisch zerstreuter Professor.
“Ich bin Charlene Ross’ Vormund und lebe hier, seit ihr Vater verstorben ist. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es ihr in Ihren Fächern geht.”
“Sie hat lauter Einsen seit dem Tag, als sie die Schule zum ersten Mal betreten hat. Es gibt nichts Neues.”
Mehr aus ihm herauszukriegen war so schwierig, wie einen Zahn zu ziehen. In den nächsten Lehrer, den Mathematiker, setzte Merry große Hoffnungen, weil er Charlies Lieblingslehrer war. Und der Mann geriet richtig ins Schwärmen. “Mein Gott, sie ist sehr intelligent. Man träumt davon, solche Kinder wie Charlene zu unterrichten. Sie saugt alles auf wie ein Schwamm. Ich kann sie gar nicht genug fordern. Es fällt ihr einfach alles leicht.”
“Schön, das zu hören. Wie kommt sie mit den anderen Kindern
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