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alle luegen

Titel: alle luegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meg Castaldo
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oberste Regel meines Onkels vergessen, die da besagte: Was immer du tust, stecke nie den Schlüssel für das obere Schloss in das untere Schlüsselloch. Ich zerrte am Schlüssel, aber er bewegte sich keinen Millimeter. Warum Carmi das verdammte Ding niemals hatte austauschen lassen, war mir ein Rätsel. Ich fluchte wie ein Kesselflicker. Jetzt musste ich den Hausmeister wecken, und es war bereits nach elf.
    Als ich wieder auf den Fahrstuhl zuging, sah ich, dass Christians Tür einen Spalt offen stand. Ich überlegte, ob ich ihn um Hilfe bitten sollte. Das würde ihm gefallen - eine Lady in Not. Ich stand eine weitere Minute im Flur und versuchte, mich zu entscheiden, bis mir einfiel, dass er wahrscheinlich gar nicht allein war. Möglich, dass die entzückende Giti bei ihm war und ein paar Lektionen für ihre bevorstehende arrangierte Ehe bekam. Doch dann entschied ich, mich der eventuellen Peinlichkeit auszusetzen. Ich klopfte ein paar Mal gegen die Tür, aber es rührte sich nichts. Also klopfte ich wieder, diesmal lauter. »Christian«, rief ich. Immer noch nichts. Vielleicht war er besoffen eingeschlafen und hatte vergessen, die Tür richtig zuzumachen.
    Ich stieß sie auf. Die Angeln quietschten. In der Wohnung war Licht. Wieder rief ich seinen Namen. Ich betrat den Flur und lauschte auf irgendein Lebenszeichen. Ich stellte mir Christian auf dem Bett ausgestreckt vor, seine teuren Schuhe davor, seine zerknitterten Klamotten halb ausgezogen. »Christian«, rief ich wieder und schlich durch die Wohnung. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass ich noch nie hier gewesen war. Das Wohnzimmer war leer bis auf einen Glastisch, auf dem einige verschließbare Tüten lagen, eine schwarze Ledercouch und ein paar Zeitschriften. Ich trat auf die Zeitung von gestern; die Seiten raschelten unter meinen Füßen. In der Luft hing der Geruch von Zigaretten. Es war kalt. Ich begann zu frösteln. Irgendwo musste ein Fenster offen sein. Ich rief noch einmal seinen Namen. Die Stille machte mich nervös.
    Das Schlafzimmer war dunkel. Der Wind von draußen ließ die Vorhänge flattern wie Lenkdrachen. Ich konnte die Umrisse von Christians schlafender Gestalt ausmachen, die an der gegenüberliegenden Wand zusammengesackt war. Giti war nirgendwo zu sehen. Ich ging zögernd auf ihn zu und flüsterte seinen Namen, um ihn nicht zu erschrecken. Als ich auf Armeslänge herangekommen war, streckte ich meine Hand aus und legte sie ihm auf die Schulter. Er war bewusstlos. Seine Haut war kühl und glatt wie ein gefrorener Apfel. Ich schüttelte ihn ein bisschen. »Christian«, sagte ich, während ich halb darauf gefasst war, dass er aufsprang und mich zu Tode erschreckte. »Christian«, wiederholte ich und ohrfeigte ihn. »Wach auf.« Er lehnte an der Wand wie ein Kartoffelsack. »Hör mit dem Mist auf«, rief ich und verpasste ihm noch eine. Doch er bewegte sich immer noch nicht. Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg. Ich tastete mich zu seinem Schreibtisch und knipste die Lampe an, die umgehend ihr grausames Licht verströmte. Einen Moment lang war ich geblendet.
    Das Haar hing ihm wie ein dünner Schleier im Gesicht. Seine Arme hingen schlaff herab, die Finger waren gekrümmt. Ich hörte, wie mein Atem heftiger kam. Ich wiederholte seinen Namen, obwohl ich bereits wusste, dass ich keine Antwort bekommen würde. Dennoch war ich sicher, dass meine Augen mich täuschen mussten. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich rief ihn erneut, doch meine Stimme war nur noch ein Krächzen. Seine weichen Locken klebten ihm am Kopf und waren getränkt mit etwas, das wohl Blut sein musste. Ich spürte, wie sich mein Schließmuskel zusammenzog und eine Gänsehaut meinen Körper überzog. Ein fauliger Geruch wie von schlechten Tomaten drang in meine Nase und füllte meine Lungen. Ich beugte mich über den Schreibtisch und würgte so heftig, dass meine Augen zu tränen begannen. Nun sah ich auch das Blut, das sich wie aus einem riesigen Tintenfass über die Wand ergossen hatte. Der Magen drehte sich mir um. Ich kotzte alles voll. Ruf die Polizei. Geh zum Telefon und wähl die 911. Dein Nachbar ist tot. Das passiert wahrscheinlich jede Nacht. Die Vermittlung kennt das schon. Bitte kommen Sie und kratzen meinen Nachbarn vom Boden. Er stinkt schon langsam. Das verdirbt den Appetit.
    Irgendwo schlug eine Tür zu. Aber ich konnte meinen Blick nicht von Christian lösen. Ich glaubte, meinen Namen zu hören. Aber ich war nicht sicher. Ich war irgendwo anders, wo niemand

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