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keine Ahnung, wie spät es war, doch ich sah Licht durch die Vorhänge sickern. Jacob war dran. Er wollte wissen, ob ich mir vorstellen konnte, wohin Jan geflogen war. Ich konnte es nicht. Jacob fluchte wie ein Kesselflicker. Offenbar war Jan nirgendwo angekommen; sein Name - wenn es sein Name war - war bei keinem Flug aufgetaucht. Er war schlichtweg vom Erdboden verschluckt. Genau, wie er in meinem Leben aufgetaucht und wieder daraus verschwunden war.
Jan war jetzt auf der Flucht. Ein ewiger Fremder.
35
Carmi traf gegen acht Uhr ein. Er trug den gleichen Anzug, in dem er auch abgereist war, nur dass dieser nun verknittert und etwas abgewetzt war. Immer noch thronte ein Strohhut auf seinem Kopf, unter dessen schmalem Rand sein Gesicht wie karamellisiert aussah. Wenn er lächelte, wirkten seine Zähne riesig und strahlend weiß im Kontrast zu seiner sanften Bräune. Er roch so schön nach einer Mischung aus Sonnencreme und Aftershave auf Zitrusbasis und Alkohol, als er mich umarmte. Er war erschöpft, was nicht zuletzt von einer starken Dosis Dramamine -ein Mittel gegen Übelkeit - herrührte. »Ach, ich vertrage Turbulenzen nicht, Alex«, erklärte er. »Davon wird mir immer ganz schlecht.« Er wollte sich eigentlich direkt zurückziehen und erst morgen früh bei einem Kaffee erzählen, doch da mir seine Anwesenheit zum ersten Mal seit vielen Tagen ein gewisses Gefühl der Geborgenheit gab, versuchte ich, ihn dazu zu bewegen, sich jetzt noch mit mir zu unterhalten.
Ich schlug ihm einen Absacker vor. »Vielleicht einen letzten, kleinen«, sagte Carmi mit einem Augenzwinkern. Ich mixte Rum mit Cola, wir setzten uns auf die Couch und plauderten über nichts Besonderes. Ich stellte die obligatorischen Fragen nach dem Urlaub: Wie war das Wetter? Hat es Spaß gemacht? Was hast du alles gemacht? Carmi war gut gelaunt - offensichtlich war er in Gedanken noch ganz in Puerto Rico. Mir fiel das Geplauder dann aber doch schwer. Die Nachrichten, die ich ihm irgendwann überbringen musste, lasteten mir schwer auf der Seele. Aber vielleicht war es auch bloß der Rum. Nach zwanzig Minuten hatte Carmi sein Glas leer getrunken und ging ins Bett.
Ich sackte für meine letzte Nacht in New York auf der Auszieh-Couch zusammen. Unter normalen Umständen wäre ich sentimental geworden
- ein letzter Blick auf die nächtliche Skyline, die vorerst letzte Chance, untermalt von den Geräuschen der Twenty-third Street einzuschlafen. Aber ich war von den Ereignissen der letzten zwei Tage immer noch zu aufgewühlt, um mich in poetischen Betrachtungen zu ergehen. Ich stellte mir das Telefon in Reichweite, denn bestimmt würde jemand anrufen: Jacob, der mehr Informationen haben wollte, oder Kyle, der mit seinem letzten Zusammenstoß mit dem Gesetz angeben wollte. Ich wollte nicht, dass irgendjemand Carmi aufweckte, bevor ich die Chance gehabt hatte, ihm alles zu erklären. Fast erwartete ich, dass Jan von weiß Gott wo anrief. Und so lag ich da, mit offenen Augen und wirren Gedanken.
Irgendwann sah ich auf die Uhr. Es war erst halb elf - kein Wunder, dass ich nicht müde wurde. Ich versuchte zu lesen, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Meine Gedanken wanderten immer wieder zu Jan zurück. Selbst wenn es wahr war, was Jacob über ihn gesagt hatte, so konnte ich doch nicht anders, als an ihn zu denken. Ich hatte keine Ahnung, was das über mich aussagte. Vielleicht hatte ich mich tatsächlich in ihn verliebt. Es fiel mir schwer zu glauben, dass er wirklich jemanden umgebracht haben sollte. Er hatte immer so beherrscht, so ruhig gewirkt. Aber wahrscheinlich kann man niemals sagen, wozu andere Menschen fähig sind.
Ich stellte mir vor, wie Jan irgendwo an einem weißen Sandstrand saß, während der Indische Ozean über seine Füße plätscherte. Vielleicht hatte er sich ja auch im Urwald von Indonesien versteckt. Alles schien mir möglich. Eines Tages würde ich ihm wahrscheinlich auf einem lärmigen Markt irgendwo in der Karibik über den Weg laufen oder vielleicht in einer verrauchten Opiumhöhle in Amsterdam. Ich hoffte, dass es so kommen würde. Ich wollte eine Chance bekommen, ihn zu fragen, warum er es getan hatte.
Ich war betrogen worden. Das war die schlimmste Erkenntnis. Schlimmer als alles, was geschehen war, seit ich Christians Leiche in seiner Wohnung gefunden hatte. Ich hatte mich geirrt. Ich hatte sie alle furchtbar falsch eingeschätzt: Kyle, Christian, Jan. Es war, als hätte ich das Gleichgewicht verloren und wäre eine
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