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Treppe hinabgestürzt. Mir fehlten nur die gebrochene Hüfte und die Prellungen.
Um drei Uhr morgens weckte mich das Telefon - genau wie ich erwartet hatte. »Hallo?«, flüsterte ich. »Jan?« Ich war sicher, dass er es war. Ich konnte es spüren. Aber niemand sprach. Ich hörte nur das eintönige Rauschen wie von einem kaputten Fernseher und bildete mir sogar ein, im Hintergrund arabische Laute zu vernehmen. Eine Stunde später klingelte das Telefon wieder. Dieses Mal war ich bereit. Ich nahm den Hörer auf. »Jan?«, fragte ich und wartete darauf, seine Stimme zu hören.
»Ich bin’s.«
»Wer ich?«
»Kyle, wer denn sonst?«
Als wäre er der einzige Mensch auf der Welt.
»Hi«, sagte ich.
»Und? Wie isses?«
»Es ist vier Uhr morgens!«
»Ich weiß«, entgegnete er.
»Warum rufst du mich dann an?«
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass du nicht weg bist.«
»Bin ich nicht.«
»Ich war mir nicht sicher.«
»Ich bin immer noch da.«
»Offensichtlich«, sagte er.
»Was machst du?«
»Ich konnte nicht schlafen.« Er hustete. »Dieser verdammte Arm ... er juckt wie verrückt.«
Kyles Logik: Wenn ich nicht schlafen kann, dann soll es auch kein anderer.
»Du reist bald ab, oder?«
Ich antwortete nicht. Die Frage war sowieso nur rhetorisch gewesen.
»Ich hab ein bisschen nachgedacht«, fuhr er fort. »Vielleicht sollte ich diese beschissene Stadt auch hinter mir lassen. Es kotzt mich langsam an hier.« Er gähnte. »Irgendwie hab ich hier auch nicht besonders viel Glück.«
Als ob er sonst wo jemals viel Glück gehabt hätte. Dennoch konnte ich etwas, das annähernd nach Reue klang, in seiner Stimme vernehmen. Wenn er auch abreisen wollte, konnten wir vielleicht zusammen gehen.
»Ich fliege morgen«, sagte ich. »Um acht.«
Ein langes Schweigen folgte.
»Ich hab gehört, dass er es gewesen ist.«
»Ich auch.«
»Haben sie ihn erwischt?«
»Nein«, antwortete ich. »Er ist nicht nach Belgien zurückgeflogen. Er ist einfach ... verschwunden.«
»Ich wusste, dass der Kerl ein Arsch ist.«
»Damit hast du wohl Recht gehabt.« Ich musste es wohl oder übel zugeben.
»Siehst du?«
»Was?«
»Manchmal weiß ich doch, was ich tue.«
»Ich werd’s mir fürs nächste Mal merken«, sagte ich.
»Aber du kannst ja gar nicht anders.« Kyle lachte. »Was Männer betrifft, hattest du schon immer einen grottenschlechten Geschmack.«
Vielleicht war dies das Klügste, was Kyle jemals von sich gegeben hatte. Es blieb nichts mehr zu sagen.
»Dann sehe ich dich morgen?«, fragte er.
»Sieht so aus.«
»Bis dann.«
Die Leitung war tot.
Am nächsten Abend kam Kyle angehetzt, als die Flugzeugtür sich gerade schließen wollte. Als er mich entdeckte, grinste er breit. Und ich muss gestehen, dass ich ein ebenso breites Grinsen im Gesicht hatte. Kyles Arm war immer noch eingegipst, aber er trug neue Klamotten und seine Haare waren frisch gewaschen und gekämmt. Er sah aus wie Dennis the Menace. Vielleicht wollte er neu anfangen - zumindest kurzfristig. Ich war aufrichtig froh, ihn zu sehen, wenn ich auch nicht genau wusste, warum. Er schien dasselbe zu empfinden, denn er hatte mir ein paar Bücher mitgebracht, von denen er dachte, dass sie mir gefallen würden. Das war alles, was man von Kyle verlangen konnte. Für Kyle war so eine kleine Geste schon viel. Also flogen wir gemeinsam zurück und saßen nebeneinander wie zwei Freunde, die sich nach langer Zeit wieder gefunden hatten. Kyle half mir, nicht die ganze Zeit an die Ereignisse in New York zu denken, indem er von San Francisco plauderte. Je näher wir Kalifornien kamen, desto besser fühlte ich mich. Und als wir den Grand Canyon dreißigtausend Fuß unter uns liegen sahen, war ich schon wieder ganz ich selbst. Naja, beinahe.
Vor meinem Flug hatte Carmi mich in ein griechisches Restaurant ganz in der Nähe zu einem frühen Abendessen eingeladen. Bis dahin gelang es mir, den Tag zu überstehen, ohne ihm von den Ereignissen in der Nachbarwohnung zu erzählen. Irgendwie war er auch noch keinem der zahlreichen Gebäudeangestellten - Hausmeister, Portiers und so weiter
- begegnet. Also blieb es mir überlassen, ihm die Nachricht zu überbringen. Meine Taschen waren gepackt. Ein Taxi war bestellt. Jacob hatte sich noch mal gemeldet; er wollte meine Nummer in Kalifornien haben. Ob ich wohl Besuch von der Ostküste empfangen würde? Er überlegte, ob er sich versetzen lassen sollte. New York sei ihm zu kalt. Und übrigens: Ob ich Robinson Jeffers’ Haus
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