Alle meine Schuhe
…
»Nun?« Maddy sah sie mit einem merkwürdigen Blick an.
»Was nun?«
»Willst du nicht nachsehen, ob in diesem auch eine Nachricht steckt? Du hast doch gesagt, dass Ballerinen Briefe in ihren Schuhen verstecken, oder?«
»Hab ich das? Ja, richtig!«
»Ja, das hast du gesagt, Amy.« Maddy wandte sich wieder der Werkbank zu und wählte eine kleine Zange aus einer Sammlung, die an mehreren Haken über dem riesigen Schneidbrenner in der Ecke hing. »Damit müsste es gehen. Komm, lass uns zurück ins Haus gehen. Dann kannst du nachsehen … Amy?«
»Ja?« Ihre eigene Stimme kam ihr erneut fremd vor. Wieder ging in Amys Kopf alles durcheinander.
»Möchtest du es tun?«
Amys Antwort kam so unerwartet wie von ganzem Herzen:
»Ja!«
29. Kapitel
M addy fuhr weg, um Charlotte abzuholen, und ließ Amy auf dem Sitzkissen im Wohnzimmer zurück. Amy hielt den Brief fest umklammert und hatte noch Maddys Abschiedsworte im Ohr, die durch die luftige Eingangshalle klangen: »Ich glaube, du kannst ein bisschen Zeit für dich allein gebrauchen.«
Natürlich war da noch ein Brief gewesen, versteckt in der Zehenbox des Schuhs. Wie hätte es anders sein können? Amy hatte ihn bereits zweimal gelesen, ihn dann Maddy zum Lesen gegeben, ihn beiseitegelegt, wieder an sich genommen, zusammen- und wieder auseinandergefaltet und ausgiebig darüber nachgedacht, ihn in Tausend kleine Stücke zu reißen und so zu tun, als hätte es ihn nie gegeben.
Aber das war unmöglich.
Das Erste, was sie gesagt hatte, war: »Wer hätte gedacht, dass so kleine Schuhe so viele Geheimnisse bergen?« Maddy hatte darauf nicht geantwortet.
Und jetzt, in der Stille des Wohnzimmers, mit dem Totempfahl, der immer noch finster auf sie herunterblickte, schaute Amy sich um und fragte sich, warum sie um die halbe Welt reisen musste, um all diese folgenschweren Geheimnisse aufzudecken.
Obwohl der Brief vom Oktober vor fünfundzwanzig Jahren war, wiesen ihn Sprache und Stil unverkennbar als Sergeis aus.
Hannah, mein Liebling,
ich danke dir so sehr für Paris. Immer wenn ich glaube, diese Situation nicht länger ertragen zu können, dann denke ich an Paris, an dich und unsere gemeinsame Nacht. Dann fühle ich mich stark wie ein Löwe und im nächsten Moment wieder ganz schwach, weil ich weiß, dass wir nicht immer zusammen sein können. Mag sein, dass ich daran zerbreche. Ich mache mir auch Sorgen um dich, mein Liebling. Wenn wir nicht zusammen sind, hält mich nur meine Arbeit am Leben. Aber ist es nicht ungerecht, dass gerade die uns trennt? Diese Tour durch Südamerika wird jedoch die beste von allen werden. Das Ensemble mit all den großartigen Tänzern, die mit ganzem Herzen dabei sind, ist bereit – was mich mit Freude erfüllt. Wenigstens wird uns immer Paris bleiben, ich liebe dich, meine Hannah, immer schon, und daran wird sich nie etwas ändern. Und wie auch immer unsere Leben sich entwickeln werden, du wirst mir fehlen. Du bist für alle Ewigkeit in meinem Herzen.
Dein Sergei
Was Amy seit Tagen schon vermutet hatte, stand jetzt zweifelsfrei fest. Ihre Mutter und Sergei hatten sich all die Jahre geliebt – leidenschaftlich geliebt. Und da war noch etwas.
Schon wieder Paris! Ob sich beide Briefe auf dieselbe Nacht beziehen?
Automatisch griff Amy nach ihrer Handtasche und zog den ersten Brief heraus, den Alice in dem anderen Schuh gefunden hatte. Amy verglich die Daten und runzelte die Stirn. Vor fünfundzwanzig Jahren im Oktober. Das würde heißen, dass diese Liebesnacht in Paris etwa sechs Jahre vor dem Abend von Margot Fonteyns Party lag, auf der sie so vertraut gewirkt hatten … nein, es musste fünf Jahre und … neun Monate … vorher gewesen sein, als Amy genau fünf Jahre alt war …
»Hatte ich dir nicht ausdrücklich gesagt, dass du nicht an die Tür kommen sollst? Also ehrlich, Mum, was geht nur in deinem Kopf vor? Was dachtest du denn, was ich da drin tue? Ich ertrage das nicht länger – ich gehe nach oben! Und weck mich morgen früh ja nicht auf, kapiert! Ich schwöre, dass ich dann auf der Stelle von hier verschwinde!«
Amy hob den Kopf, lauschte den stampfenden Schritten auf der Treppe und wartete auf das unvermeidliche Zuknallen einer Tür.
Gute Arbeit, Charlotte. Vielleicht schaffst du es beim nächsten Mal sogar, dass sie aus den Angeln fliegt. Warum freust du dich nicht einfach darüber, dass du eine Mutter hast? Glaub mir, sie würde dir fehlen, wenn sie plötzlich nicht mehr da wäre.
»Geht es dir
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