Alle meine Schuhe
auszuarbeiten.« Jesminder verschwand wieder in der Küche, und Amy hörte das vertraute Geräusch des Wasserkessels. »Warum legst du nicht ein bisschen Musik auf?«, schlug Jes vor.
»Okay.« Amy robbte auf allen vieren zu Jesminders CD-Sammlung – mit Punjabi, Rishi Rich und dem totalen Horror: Justin Timberlake -, die sie in einem wackeligen Weidenkorbturm neben ihrer Stereoanlage und dem tragbaren Fernseher untergebracht hatte. »Hast du irgendwas Neues vom Festival? Ich könnte Gute-Laune-Musik vertragen.«
»Leider nein. Noch nicht runtergeladen. Leg einfach Justin Timberlake auf.«
»Muss ich?«, jammerte Amy. »Für heute habe ich genug von Justins.«
»Stimmt – entschuldige. Dann such du etwas aus. Lust auf Kekse?«
»Nein danke. Jes, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir gar keine Musik hören?«
»Natürlich nicht.«
Amy setzte sich wieder auf den Fußboden, lehnte sich an die Couch und schloss die Augen. Sie war zu kaputt, um zu weinen – von intensiven Gefühlen hatte sie für heute genug. Aber ins Bett legen wollte sie sich auch nicht. Sie würde ja doch nicht schlafen können. Immer wieder ließ sie vor ihrem geistigen Auge die Ereignisse des Tages ablaufen.
Wo Justin jetzt wohl steckte? Vielleicht ist er sogar im Apartment … liest meinen Brief … greift nach dem Telefon, gequält von Schuldgefühlen …
»… genau so wie du ihn magst, nicht zu stark, mit einem Schuss Milch.«
»Jes, du bist ein Engel. Ich bin dir so dankbar.«
Jesminder setzte sich im Schneidersitz auf das Sofa. Sie schüttelte den Kopf. »Ist schon in Ordnung, Amy. Ich weiß, dass du das Gleiche für mich tun würdest.«
»Natürlich.«
»Jetzt müssen wir einen Plan ausarbeiten. Du musst dich auf den Weg machen und dir deine Schuhe zurückholen. Das musst du.«
Amy kicherte.
»Was ist denn so lustig?«, wollte Jesminder wissen.
»Entschuldige, aber mir fiel gerade auf, dass es nicht mal dir wichtig ist, dass ich meinen Mann zurückbekomme. Prioritäten setzen, nicht wahr? Debs hat dich auch schon ganz schön beeinflusst, oder?«, fragte sie grinsend.
»Nein!« Jesminder warf ein Kissen nach Amy. »Aber du musst diese Sache durchziehen. Es wird dir außerdem guttun und hält dich vom Grübeln ab – und was am allerwichtigsten ist, du bekommst die Ballettschuhe deiner Mutter zurück. Also los, her mit dieser Adressliste.«
Amy reckte sich zu ihrer Karen Miller-Tasche und zog die Liste heraus. Bei der Gelegenheit checkte sie zum x-ten Mal ihr Handy, um zu sehen, ob Justin ihr eine SMS geschickt hatte.
»Also gut.« Jesminder nahm Amy vorsichtig die Liste aus der Hand und sah sie durch. »Da hast du aber eine beachtliche Reiseroute vor dir. Wow!« Sie las vor. »In die USA! Irland! Newcastle!«
»Komm schon, ich kann doch nicht um die ganze Welt reisen, an Türen klopfen und meine Schuhe zurückverlangen«, stöhnte Amy.
»Warum nicht?« Jesminder sah aus, als würde sie das tatsächlich ernst meinen.
»Ich bitte dich! Sich unbefugt Zugang zu Justins Computer zu verschaffen, um herauszufinden, wohin all die Schuhe verschickt wurden, ist das eine, aber rund um den Globus zu reisen, um sie zurückzuverlangen? Die Leute werden mich für eine exzentrische Schuhfetischistin halten, wenn ich vor ihrer Haustür auftauche und sie über ihre Schuhe ausfrage.«
» Deine Schuhe, Amy«, korrigierte Jesminder. »Und du bist eine exzentrische Schuhfetischistin. Finde dich damit ab. Also, wie lange kannst du dir Urlaub nehmen?«
»Maximal zwei Wochen«, antwortete Amy sofort, ohne darüber nachzudenken. »Ich wollte sagen, nein. Auf keinen Fall! Kein Urlaub. Alles stehen und liegen lassen und rund um den Globus fliegen, ohne zu wissen, ob ich die Leute überhaupt finde oder was mich dort erwartet? Das ist völlig bescheuert. Wer in Gottes Namen würde so etwas tun?«
»Jemand, der nichts zu verlieren hat?«, fragte Jesminder ganz ruhig.
Amy öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Stattdessen wandte sie den Kopf und blickte aus dem Souterrainfenster auf die Schuhe der draußen vorbeieilenden Passanten.
Hat Jes recht? Habe ich wirklich nichts zu verlieren? Sie schüttelte den Kopf, weil ihr die Vorstellung Angst machte, und drehte sich zu ihrer Freundin um.
»Glaubst du tatsächlich, es gibt im Leben nicht mehr für mich, als meinen Freund und meine Schuhe?«, sagte sie in etwas schärferem Tonfall als beabsichtigt. »Ich bin ich! Ich habe ein eigenes Leben! Und einen Job!
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